Freitag, 3. Juni 2022

Cannes: Viele Adelige und der Selbstmörder Klaus Mann

Cannes: Postkartenmotiv der Croisette von 1933
Schon früh wurde die Côte d'Azur ein magischer Anziehungspunkt, vor allem für „le monde“, die Leute von Welt, die sich genau für deren Mittelpunkt hielten. Es gehörte sich einfach, drei, vier Monate des Jahres in Cannes oder Nizza Hof zu halten. Allerdings könnte man den Eindruck gewinnen, als seien die Kranken und die Heiratswilligen in der Überzahl.

„Fürsten, Fürsten, überall Fürsten! Glücklich, wer Fürsten liebt. Kaum hatte ich gestern morgen den Fuß auf die Promenade de la Croisette gesetzt, als ich dreien von ihnen begegnete, einem hinter dem anderen. In unserem demokratischen Lande ist Cannes die Stadt der Titel geworden.“
Guy de Maupassant hatte sich in seinem Tagebuch von 1888, das später unter dem Titel „Auf dem Wasser“ auch in deutscher Sprache erschien, noch vornehm zurückgehalten.

Bei anderen war das weniger der Fall, bei Prosper Mérimée zum Beispiel, den vor allem die Vielzahl der

„unverheirateten und unverheiratbaren englischen Fräuleins“
faszinierte, die sich hier zusammengefunden hätten.
„Eine Ansammlung von flachsblonden Haaren und langen Zähnen.“
Das Carlton
Mérimée wurde in diesenPassagen seiner Briefe zum spöttischen Beobachter vor allem der englischen Kolonie.

Man kam nach Cannes, „weil man die Kaiserlichen und Königlichen Hoheiten liebt“. Die seien dort fast unter sich und regierten, „in Ermangelung der Königreiche, derer man sie beraubt, friedlich in den Salons, die ihnen treu ergeben sind“.

Die ZANZI-Bar. Einen Tag
vor seinem Selbstmord war
Klaus Mann zu Gast und
suchte seinen Louis.
          Bis zu sechzig Angehörige ausländischer Königshäuser waren zwischen 1880 und 1930 jedes Jahr in Cannes zu finden. „Man begegnet ihnen in großer und kleiner Ausführung, arm und reich, traurig und vergnügt - für jeden Geschmack etwas.“

Kurt Tucholsky ertappte sich dabei, daß auch er beinahe über das „Deauville des Mittelmeers“ geschrieben hätte. „Hier wogen die in leichte Gewänder gekleideten Damen und bewegen sich zierlich...,“ aber um das festzustellen habe die Vossische Zeitung ihn sicher nicht nach Fankreich geschickt, bekommt er gerade noch die Kurve und fragt:
„Wie sieht die Existenz eines Zimmerkellners in der Hochsaison aus? Was denken diese Leute? Wie arbeiten sie? Und unter welchen Bedingungen?“

Die Madonna wacht über der Altstadt und dem Hafen
Und formuliert abschließend eine frühe Anregung an Günther Wallraff.
„Warum nimmt niemals einer von uns für ein paar Monate die Arbeit eines Stewards, eines Kellners, eines Bedienten an und schildert die Welt einmal von da aus?“
Das seien die Bücher, die nicht geschrieben würden.


Sonntag, 29. Mai 2022

(Wieder mal) Pflichtlektüre für Provence-Krimi-Fans: Cay Rademachers „Geheimnisvolle Garrigue“ und „Die Richterin und der Tanz des Todes“ von Liliane Fontaine

Aufführung "Mireille" in der Arena von Nîmes...

Das sind mal Tatorte! Liliane Fontaine lässt ihre Flamenco-Tänzerin auf der offenen Bühne der Arena von Nîmes sterben und Cay Rademacher die Freundin eines Polizisten am Schiffstunnel von Rove verschwinden. Zwei spannende Geschichten, die für die Ermittler aber jeweils mühsam anlaufen. Einmal zu viele, einmal zu wenige Verdächtige – beides gleich schlecht.

...und ein riskanter Besuch im Tunnel von Rove/ Marignane.

An sich müßte ich mich ja für befangen erklären: Der Dumont Verlag zitiert auf der vierten Umschlagseite aus meiner Rezension über Rademacher „Schweigendes Les Baux“ und Fontaine verweist (Seite 59) auf meinen Blogbeitrag über die Pestmauer von Lagnes http://lustaufprovence.blogspot.com/2021/05/eine-pestmauer-quer-durch-die-provence.html

Darf ich jetzt die beiden Titel nicht mehr empfehlen? Doch – und wie! Eine Autorin und ein Autor, die Südfrankreich inhaliert haben und uns in ihren Büchern in den Midi verführen.

Beste Lektüre für die Einstimmung auf den Midi - gerne auch mit Champagner!

Von daher beginne ich gleich mal mit Rademachers Hinweis am Ende des Buches: Suchen Sie diesen Ort bitte nicht auf. Wahrscheinlich würden Sie nicht gerade ermordet, weil kaum jemand sich noch in den Tunnel hineintraut, aber genug Stellen, an denen Sie sich den Hals brechen können, gibt es trotzdem. Wer es dennoch nicht lassen kann, sollte wenigstens keine Zigarette ins Wasser werden, denn giftige Zersetzungsgase wie Methan sind dort in brennbarer Konzentration vorhanden. Es könnte im wahrsten Sinne des Wortes „die letzte Zigarette“ werden.

Dieser längste Bootstunnel der Erde ist heute noch in Teilen zugänglich, aber der 2 Meter schmale Gehweg ist an vielen Stellen eingebrochen. 1927 mit großem Pomp eröffnet, brauchte der damalige französische Präsident Gaston Doumergue auf einem Schnellboot der Kriegsmarine gerade mal 35 Minuten, bis er die Entfernung zwischen Marseille und dem Etang de Berre zurückgelegt hatte. Die französische Presse vergleicht den Tunnelbau mit dem der Pyramiden in Ägypten. Nur, ganz so lange hat er nicht gehalten, 1963 ist der Tunnel auf eine Strecke von 200 Metern eingestürzt.

Rademacher schrieb das Manuskript - für mich etwas zu sehr - unter dem Eindruck der Covid-bedingten französischen Ausgangsverbote. Ärzte, die mit Tauchermasken von Decathlon durch die Krankenhäuser eilen und Desinfektionsmittel, die von der Polizei bewacht werden mußten und die man deshalb im Polizeirevier aufbewahrte. Inzwischen hat Macron Covid in Frankreich ja kurz vor seiner Wiederwahl „abgeschafft“ und damit sicher wesentlich zu seinem Erfolg beigetragen.

Junge Frauen verschwinden, nur ein linker Schuh wird gefunden. Genau wie vor 23 Jahren. Und damals hat man den Täter nicht gefasst. Sind Sie allerdings klaustrophobisch veranlagt oder haben gar eine Tunnelphobie, dann lesen Sie den neuen Südfrankreich-Kriminalroman von Cay Rademacher besser nicht. Für alle anderen: Kaufen, im Midi versinken und sich etwas gruseln. Denn der rund 7 Kilometer lange Tunnel du Rove spielt eine entscheidende Rolle in diesem Buch. Was zu Beginn der Bauarbeiten im März 1911 niemand wissen konnte: Der Tunnel entwickelte sich schnell zu einem ebenso teuren wie überflüssigen Projekt. Fünfzehn Jahre später waren 2,3 Millionen Kubikmeter Felsen von 1.300 Tonnen Dynamit zertrümmert und durch 470.000 Kubikmeter Beton ersetzt worden. 

Liliane Fontaine und Cay Rademacher

Könnten nicht die Richterin Mathilde de Boncourt und der Kommissar Roger Blanc einmal gemeinsam ermitteln und sich so näherkommen? Das wird aber wohl nicht gehen, denn er hat ja seine schöne Nachbarin Paulette und sie ihren Commandanten Rachid Bourraada. 

Außerdem hat Mathilde de Boncourt im Flamenco-Milieu und dem der Gitanes, Tziganes und Manouches, wie die Zigeuner sich im Midi nennen oder genannt werden, genug zu tun. Ist die junge Flamenco-Tänzerin wirklich u so unschuldig wie sie gerne tut und wie sie (fast) alle Kollegen sehen? Nur der schwule Tänzer sicher nicht, den sie um sein Erbe bringt. Machen sie ein paar Nächte mit dem alten Choreografen und die anschließende Hauptrolle in der großen Bühnenshow schon verdächtig? Auch neue Ermittlungsmethoden, wie eine stimmliche Gegenüberstellung führen nicht weiter.

De Boncourt und Bourraada sind so sehr in ihre Ermittlungen eingetaucht, daß sie dabei am liebsten auch noch die Frage geklärt hätten, wer denn nun van Gogh das Ohr abgeschnitten hat und ob sein Selbstmord vielleicht doch ein Mord war. Aber das machen die Beiden dann vielleicht im nächsten Band der Serie „Die Richterin“.

Mehr über das Amphitheater von Nîmes unter https://www.geo.fr/histoire/les-arenes-de-nimes-ou-le-renouveau-dun-amphitheatre-romain-vieux-de-2000-ans-209141 .

Und wenn die Autoren mal wieder ungewöhnliche Locations für die nächsten Romane brauchen, empfehle ich einen Blick auf die Homepage von Vincent Duseigne, http://tchorski.morkitu.org/14/tunnel-rove.htm auf der sich auch zahlreiche beeindruckende Bilder des Tunnels von Rove befinden. Weitere Informationen auch hier: https://www.chasse-maree.com/le-tunnel-du-rove-oublie-de-lhistoire/