Das kleine Städtchen Argèles-sur-Mer, bei Perpignan kurz vor
der spanischen Grenze gelegen, hat heute im Sommer meist mehr als sechzigtausend und im Winter knapp zehntausend
Einwohner. Hier ist die Welt in Ordnung, scheint es, solange jedenfalls, bis man zu den Argèles-Krimis von Silke Ziegler greift.
Die vielen Gäste am Strand sind gewollt - heute jedenfalls. 1939 war
das anders.Das Ende des spanischen Bürgerkrieges hatte allein 400.000
Flüchtlinge - mehr als doppelt so viele, wie das Departement Pyrénées-Orientales damals Einwohner besaß –
in die Gegend kommen lassen. Der französische Premierminister Édouard Daladier
hatte die Grenzen geöffnet und gehofft, daß man es irgendwie schaffen könne,
die Flüchtlinge unterzubringen und zu versorgen. Weit gefehlt: Mehr als 75.000 Menschen
wurden am Strand von Argèles hinter Stacheldrahtverhauen untergebracht und nur
so notdürftig versorgt, daß viele von ihnen starben.

Ein Deutscher, der auf Seite der
Republikaner im Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft hatte, beschreibt das in
seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1941: „Wir
kamen in zusammengefallenen Hütten an, halb verhungert und durchnässt, der
Regen tropfte durch die undichten Holzdecke. Die Strohmatten waren nass und
voller Fliegen. Wasser wurde aus zwei Meter tiefen Löchern geschöpft. 30 Männer
starben in zwei Monaten. Erst als Typhus nachgewiesen wurde, wurden die Toiletten verbessert. Die französische
Lagerleitung rechtfertigte ihre Untätigkeit mit der Niederlage Frankreichs und
der allgemeinen Knappheit. Immerhin gab es ausreichend Früchte und Gemüse zu
essen.“ Norbert Flörken hat das
dokumentiert.
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Blick vom Tour de Madeloc auf die Cote Vermeille |
Für die meisten Besucher von Argèles-sur-Mer ist der kilometerlange
Sandstrand von Argèles-Plage das Ziel. Dabei hat das Städtchen und vor allem
die Umgebung einiges zu bieten. Zum Beispiel den Tour de Madeloc, den einen weiten
Rundblick auf die Cote Vermeille bietet, die sehenswerte Kirche
Saint-Laurent-du-Mont im Wald von Valmy ein paar Kilometer südlich der Stadt
und dort auch den Strand von Le Racou. Hier gibt es die kleinen Strandhäuser,
die nicht von den Hochhaus-Bausünden erdrückt werden und in denen man sich wie
auf einem Schiff fühlt. Die Restaurants sind nicht ausschließlich auf
touristische Einmalbesucher ausgerichtet, sondern achten auf ein ordentliches
Verhältnis zwischen Preis und Leistung. Das gilt etwa für das „La Table au
Coin“ gerade für Fisch und Meeresfrüchte oder „La Casa Loca“ für katalanische
Küche. Außerdem beginnt hier trifft die Felsenküste, die beim Tauchen und
Schnorcheln eine ganz andere Abwechslung bietet. Und: Sie sind nur eine kleinen
Spaziergang von Collioure entfernt, der Malerstadt des Fauvismus mit ihrer
beeindruckenden Wehrkirche (auch auf dem Titel von „Im Schatten des Sommers“),
die ins Meer hinaus gebaut wurde.
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Der Strand von Argèles: Tatort im Roman und Internierungslager |
Das alles findet in den (trotzdem lesenswerten) Kriminalromanen
von Silke Ziegler für mich viel zu wenig statt, um gleich mit meinem kritischen Punkt zu
beginnen. Mit „Im Schatten des Sommers“ hat sie im Dortmunder Grafit-Verlag einen
Newcomer-Erfolg gefeiert und sich mit „Im Angesicht der Wahrheit“ schon eine
beachtliche Stammleserschaft erschrieben. Und das, obwohl sie auf das
Lokalkolorit Südfrankreichs gerade im ersten Band weitgehend verzichtet. Beide
Bücher Zieglers (Jahrgang 1975) leben von einer durchdachten Konstruktion und
vor allem von den Dialogen. Sie sind in Argèles-sur Mer angesiedelt, könnten
aber genauso gut in der Eifel spielen. Dort hat Jacques Berndorf (Jahrgang 1936) vorgemacht, wie man Menschen und eine
Landschaft in einem Krimi verwebt.
Ohne zuviel zu verraten, worum
geht’s in den beiden Büchern?
Im Angesicht der Wahrheit: Estelle
hat in Argèles die kleine Pension ihrer Großmutter geerbt. Aus dem Ort
ist sie kurz nach ihrem Schulabschluss nach einem traumatischen Erlebnis
weggegangen. Und nun werden ihre ehemaligen Klassenkameraden einer nach dem anderen
umgebracht. Ob Estelle die Mörderin
ist? Schnell wird klar, daß sie es nicht ist, aber die Auflösung und die Motive
des Täters sind spannend herausgearbeitet.
Im Schatten des Sommers: Vor
zwanzig Jahren sind die Eltern von Sophia in einen Supermarkt gegangen und nie
wieder aufgetaucht. Jetzt findet die Polizei eine neue Spur. Ein Mann,
Unfallopfer, hat ein Foto dabei: Die Frau darauf ist Sophias Mutter. Und
Kommissar Nicolas Rousseau verhält sich anfangs nicht so, daß Sophia Vertrauen
in die Polizeiarbeit fassen kann. Eine Mischung zwischen Krimi und Romanze mit
Horror-Passagen.
Wenn Sie die beiden Bände mit in den Urlaub nehmen, sind Sie und
vor allem Ihre Frau mit zusammen 1.000 Seiten gut versorgt. Aber Vorsicht bei
der Lektüre am Strand: Nach mehr als 100 Seiten, und die werden es leicht, wenn
man sich erst einmal eingelesen hat, droht ein ordentlicher Sonnenbrand.