Samstag, 26. August 2017

Hermann Kesten: Schriftsteller, Flüchtling und Lebensretter

Wenn wer Ende der 1920er Jahre in eine Buchhandlung ging und nach einem Werk von Erich Kästner fragte, kam es meist zur Gegenfrage: „Sie meinen doch sicher Hermann Kesten.“             

Bis 1933 war Kesten in Deutschland nicht nur als Autor, sondern vor allem als Programmleiter des Berliner Kiepenheuer Verlages eine der meinungsbildenden Persönlichkeiten der Literaturszene: Heinrich Mann, Anna Seghers und Bert Brecht gehörten zu den von ihm geförderten Autoren. Nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten, die ihn über Frankreich in die Vereinigten Staaten führte, entwickelte er sich zur der zentralen Figur der Exilliteratur. Neben seiner Tätigkeit als Lektor veröffentlichte er zahlreiche Artikel in der Weltbühne, der Frankfurter Zeitung und dem Berliner Tageblatt. Als „Literator“ bezeichnete ihn ob seiner Lektorenmacht und seiner vielen Verbindungen im Kulturbetrieb später Marcel Reich-Ranicki.
Toni und Hermann Kesten in New York 1943.
Auch Kestens Frau war komplett in die
Rettungsaktivitäten zahlreicher Exilautoren
vor dem Zugriff der Nationalsozialisten
eingebunden.
Vor allem aber organisierte Kesten über ein US-Hilfskomitee, das auch von Thomas Mann und Stefan Zweig unterstützt wurde, die Flucht vieler Autoren, beschaffte Visa, Geld und finanzierte manchmal auch gefälschte Papiere. 1974 erinnerte er sich:
„Ich besitze Hunderte Briefe berühmter europäischer Maler, Musiker, Professoren, Philosophen, Bildhauer und Autoren, die in ganz Amerika keinen andern wussten, der ihnen helfen konnte, ihr Leben zu retten, als mich.“
Ein solcher Satz war keine überzogene Eitelkeit, denn zu den von ihm geretteten Personen gehörten etwa Lion Feuchtwanger, Marc Chagall, Alfred Döblin und Franz Werfel.

Als hätte er seine spätere Rolle vorausgeahnt: In seinem Abituraufsatz aus dem Jahr 1919 beschäftigte sich Kesten bereits mit der Frage
"Wie kann der Dichter seinem Volke in Zeiten der Drangsal und Erniedrigung nützen?“
Schon gut zehn Jahre später war Kestens Einfluss derartig, dass Bert Brecht mit ihm allen Ernstes die Vereinbarung treffen wollte, „wechselseitig nur noch Lobendes übereinander zu sagen.“

Keine Werbung, sondern eine Notwendigkeit in Ihrer Bibliothek:
Die Kesten Biographie von Albert M. Debrunner

Heute kann mit den Namen Hermann Kesten fast niemand mehr etwas anfangen. Da sollte die kürzlich im kleinen Schweizer Nimbus-Verlag erschienene – und, kaum glaublich, erste (!) - Kesten-Biographie helfen, das zu ändern. Zwanzig Jahre hat deren Autor, der promovierte Germanist und Philosoph Albert M. Debrunner** in Archiven geforscht, Gespräche mit Zeitzeugen geführt und so zahlreiche bisher nicht bekannte Dokumente, Briefe und Familienfotos ans Licht geholt.

Nicht so ganz einfach ist das gewesen, über einen Menschen zu schreiben, wenn 1933 zahlreiche Quellen von den Nationalsozialisten vernichtet wurden, später bei Fluchten und Umzügen verloren gingen oder sogar von seiner Frau aus Angst vor den US-Geheimdiensten vorsorglich verbrannt wurden. 1940 musste Kesten seine Unterlagen vor den Nazis in einem Pariser Hotel und im Amsterdamer Exilverlag Allert de Lange zurück lassen. Ende der 1960er Jahre wurden dann Briefe und Manuskripte aus dem New Yorker Leo Baeck Institut, das sich mit der Erforschung und Dokumentation des deutschsprachigen Judentums beschäftigt, gestohlen.

In der Biographie Debrunners steht jener Hermann Kesten, der Beichtvater und Verleger, gutes und schlechtes Gewissen sowie Geld- und Ratgeber „seiner“ Autoren war, über dem Schriftsteller Kesten. Geldsorgen, Depression, Hunger, Langeweile und Angst waren die täglichen Begleiter vieler der von ihm betreuten und oft mit ihm befreundeten Schriftsteller, aber er konnte nicht immer helfen. "Wir verloren unser Volk und unsere Leser, unsere Verlage, Zeitungen, Theater, Wohnungen, Bankkonten, Pässe, Papiere, unsere Manuskripte oder Freunde, unsere Identität und viele von uns ihr Leben.“

Trotzdem gab es auch glückliche Wochen und Monate. 1934, im ersten Jahr seines Exils, bewohnte Kesten in Nizza gemeinsam mit Joseph Roth und Heinrich Mann ein Haus an der Ecke Petite Rue de la Californie und der Promenade des Anglais. Ein wahrhaft produktives Haus: Während Kesten im ersten Stock an „Ferdinand und Isabella“ arbeitete, schrieb Roth im zweiten an „Die hundert Tage“ und Mann im dritten an „Henri Quatre“; drei sehr unterschiedlich angelegte historische Romane entstanden von Etage zu Etage.
1933 in Sanary mit vielen Autorenkontakten 
und ein Jahr später in Nizza mit Heinrich Mann und Joseph Roth im gleichen Haus

Da passten die drei sehr unterschiedlichen Frauen, mit denen sie hier lebten. Manns Freundin Nelly Kroeger,
„blond, üppig und weinselig“,
erzählte grotesk-gewagte und
„manchmal schon zu deutliche Geschichten aus ihrer Mädchenzeit am Kurfürstendamm, berlinerisch ausgezogene, sozusagen splitternackte Geschichten, die mehr nach rotem Wein schmeckten als nach Nachtigallenzungen."
 
Kestens Mutter, die zweite Frau im Dichterhaus, moralisierte und zitierte die deutschen Klassiker und wenn Roths Freundin Andrea Manga Bell, regelmäßig mit leichter Verspätung ins Eckrestaurant kam, war dies jedes Mal ein perfekt inszenierter Auftritt. „Die Frau eines afrikanischen Königs war die Tochter eines Kubaners und einer blonden Hamburgerin“, wie sich Kesten in „Meine Freunde die Poeten“ erinnerte.

Für Heinrich und Thomas Mann, Alfred Döblin, Stefan Zweig, Friedrich Torberg oder Hans Magnus Enzensberger gehörte er zu den großen Romanciers des 20sten Jahrhunderts. Insgesamt rund zwanzig Romane und Biographien hat er geschrieben und wurde mit seinem Erstling „Josef sucht die Freiheit“ zu einem Hauptvertreter einer ganzen Literaturgattung, der „Neuen Sachlichkeit“. 

Debrunner schreibt seine wissenschaftlich abgesicherte Forschungsarbeit so journalistisch leicht, dass die Lektüre Spaß macht. Allerdings macht es auch kein Hehl aus der Tatsache, dass er ein großer Fan von Kesten ist. Aber so ging und geht es fast allen, die in die Umlaufbahn Hermann Kesten gezogen werden.

Und Kesten heute? Als ich kürzlich in einer Buchhandlung nach einem Werk von Kesten fragte, wurde mir zu „Emil und die Detektive“ geraten, ersatzweise („Ist es für eine Mädchen?“) zu „Das doppelte Lottchen“.
 

** Albert M. Debrunner, Jahrgang 1964, promovierte mit einer Arbeit über den Schweizer Aufklärer Johann Jakob Bodmer und arbeitet als Gymnasiallehrer in Basel. Von 2006 bis 2014 war er Präsident der Allgemeinen Lesegesellschaft Basel. Er publizierte eine Reihe von Büchern, etwa über René Schickeles Schweizer Jahre oder „Literarische Spaziergänge durch Basel“. Und was Kesten gefallen hat: Debrunner ist im Arbeitszimmer seines Vaters, zwischen tausenden von Büchern, zur Welt gekommen. In den neunziger Jahren hat er Hermann Kesten in persönlichen Begegnungen befragen können.
 
Von den Büchern, die Hermann Kesten geschrieben hat, war lange Zeit kein einziges lieferbar; seit 2014 immerhin wieder die „Dichter im Café“. Kestens Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Neben Thomas Mann und Lion Feuchtwanger gehört er zu dem meist gelesenen deutschen Autoren in den USA.
 
„Zu Hause im 20. Jahrhundert: Hermann Kesten“, Nimbus Verlag, CH-Wädenswil, 2017, 448 Seiten mit zahlreichen Bildern, 36 €, ISBN 978-3-03850-032-2. Also gleich auf in die Buchhandlungen!





 

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