Montag, 24. Januar 2022

Sanary-Paris-Berlin: Liebe, Hass und Magie der 30er und 40er Jahre

Zwei anregende Bücher von zwei Journalisten, die beide viel voraussetzen; sagen wir mal mindestens ein Studium in Literatur- und Kunstgeschichte, dazu Romanistik und Politik. Erst dann wird man beide Titel mit Freude entweder durchlesen (besser bei Agnès Poirier) oder wenigstens als Nachschlagewerk benutzen kann (besser bei Florian Illies). Zwei Bücher, die, wenn sie chronologisch gelesen werden sollen, in Zeiten des Hasses (1929 bis 1939) beginnen und an den Ufern der Seine enden (1940 bis 1950. 
 
Wirklich ein gutes gemischtes Doppel - und die Trikolore als Lesebändchen

Ohne die vielen Brief- und Tagebuchschreiber der 1930er- und 1940er Jahre hätten es beide Bücher nicht geben können. Das zeigt bereits ein erster Blick in die sehr unterschiedlich und bei beiden nicht besonders hilfreich aufgebauten Literaturangaben; allgemeine Bibliographie ergänt um eine speziell auf die Hauptpersonen zugeschnittene Literatur bei Illies und ein Fußnoten-Anhang bei Poirier, der zu viel Hin- und-Her-Blätterarbeit zwingt

Mehr Namedropping geht nicht. Florian Illies und Agnès Poirier führen je rund 600 Namen in den Registern ihrer Bücher an. Während bei Illies Bert Brecht und dieFamilie Mann, allen voran Klaus, die Hitparade anführen, sind es bei Poirier natürlich Beauvoir und Sartre, denen die meisten Fundstellen zugeordnet sind; und dann aber ausgerechnet noch dieser unbeirrbar libertäre und fürchterliche Arthur Koestler, der sein Leben selbst als "Zickzackleben" einstufte. Und das war eher untertrieben.

Sartre Beauvoir Brecht Klaus Mann (1944 in US-Uniform in Italien) Koestler (1937)

Der Jude aus der österreichisch-ungarischen Monarchie wurde während der Wiener Studienzeit Mitglied in einer schlagenden, jüdischen Verbindung, wandte sich dem Zionismus zu, arbeitete in einem Kibbuz, ging nach Berlin und schrieb dort für die B. Z. am Mittag, emigrierte nach Paris, gesellte sich sommers zur deutschen Exilantenkolonie in Sanary, wurde linientreuer Kommunist und ab Ende der 1930er Jahre einer der mutigsten Kritiker der KP, wie sein Buch „Sonnenfinsternis“ aus dem Jahr 1940 beweist, das erstmals die stalinistischen Schauprozesse und die Rolle des russischen Geheimdienstes im Spanischen Bürgerkrieg enttabuisierte. Im England der Nachkriegszeit wurde er dann einigermaßen heimisch. Von der Philosophie bis zu den Naturwissenschaften enzyklopädisch gebildet, stiftete er testamentarisch einen Lehrstuhl für Parapsychologie an der Universität Edinburgh, als er sich 1983 gemeinsam mit seiner Frau umbrachte.

Koestler als „impulsiv oder gestört“ zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Zu Hause schlug er im Wutanfall Möbel kurz und klein, mit Albert Camus prügelte er sich, und nach Sartre, dem er zeitweise Simone de Beauvoir ausspannte (sie hätte das anders gesehen), habe er „nur“ mit Gläsern geschmissen.

Öffentlich verteufelt hat ihn Michael Foot, einst Vorsitzender der englischen Labour Party. In der Financial Times schrieb er über Koestler: „Ich war mit ihm nicht nur politisch zerstritten. Jahre später erfuhr ich, daß Koestler versucht habe, meine Frau zu vergewaltigen.“ Weitere schwerwiegende Vorwürfe kamen hinzu, die manchmal als „erotische Eskapaden“ oder „private Entgleisungen“ verniedlicht wurden. In der Biographie von David Cesarini wird Koestler als Serienvergewaltiger geschildert, Frauen zu schlagen und zu vergewaltigen sei zu einem „Merkmal seines Verhaltens“ geworden. Von ihm hat Frau Poirier seltsamerweise ein etwas anderes Bild.

Dem Buch von Illies ist eine Unmenge von Lesearbeit vorausgegangen. Zurecht bedankt er sich bei seinen Vorarbeitern, so zum Beispiel bei Manfred Flügge für die vielen Hinweise auf Liebe und Hass in Sanary-sur-Mer, das kleine Örtchen an der französischen Mittelmeerküste, das für wenige Jahre, wie Ludwig Marcuse schrieb, zur "Hauptstadt der deutschen Literatur" geworden war. Natürlich ist Illies ein Kompilator, aber auch das will gekonnt und so kurzweilig gemacht werden, wie es ihm hier gelungen. Und wenn man an Vergil denkt, der das ja bestens beherrschte, so gut, daß man nicht mehr wußte, was denn von ihm und was von Homer war, dann ist das doch ein akzeptabler Vorläufer. Mich würde ja mal interessieren, wie das Originalmanuskript von Illies ausgesehen hat. Ob es eine xls-Tabelle war?

 
Heinrich Mann und Feuchtwanger ja, aber nicht Grosz

Natürlich dürfen bei einer solchen Mammutarbeit ein paar Ungenauigkeiten hereinrutschen. George Grosz etwa war nicht der Erste, den die Nazis ausbürgerten (S. 202). Das waren die eine Dame und die vielen Herren von hier nebenan. Grosz wurde diese Ehre erst viel später, im März 1938, zuteil und schon im November des gleichen Jahres wurde er amerikanischer Staatsbürger. Zu den ersten gehörten Heinrich Mann, Tucholsky, Kerr und Feuchtwanger.

Da fehlt auch André Gide als Moskau-Reisender (S.308). Ein angesehener französischer Schriftsteller fährt ins stalinistische Moskau, distanziert sich in seinem Reisebericht vom Kommunismus und wird zu Hause von vielen verdammt. Ein angesehener deutscher Schriftsteller reist ein Jahr später nach Moskau, verteidigt in einem Reisebericht den Kommunismus und wird zu Hause von vielen verdammt. 

Die Reisen von André Gide 1936 und Lion Feuchtwanger 1936/37 erregten hohe Aufmerksamkeit. Auf Einladung des sowjetischen Schriftstellerverbandes waren beide nach Moskau gereist. „In Moskau wurde ich so triumphal empfangen, daß es schwerfällt, nicht größenwahnsinnig zu werden“, schrieb Feuchtwanger von dort an Stefan Zweig. Es waren Staatsbesuche, wenn auch nur literarischer Art. Und natürlich waren sie von besonderer wirtschaftlicher Bedeutung für die Autoren, denn Feuchtwanger beispielsweise erhielt ein Honorar als Herausgeber der in Moskau erscheinenden Exil-Zeitschrift Das Wort. Die russischen Übersetzungen von Gide und Feuchtwanger wurden in hohen Auflagen abgerechnet; so ganz genau wußte allerdings niemand, ob sie auch verkauft wurden – ja, es war nicht einmal sicher, ob diese Stückzahlen überhaupt je gedruckt worden waren. „Ich habe in Russland schrecklich viel Geld liegen und kann dort auf Lebenszeit Kaviar essen“, schrieb Feuchtwanger in einem Brief. Später wurde ihm dieses Geld sogar auf westliche Konten überwiesen – ein Bevorzugung, die nicht einmal Thomas Mann erfuhr.

Poirier und Illies haben jedenfalls lesenswerte Spiegelbilder der 1930er und 1940er Jahre geschrieben. Nur, was haben diese vielgelesenen Autoren bewirkt? Nichts. Da sah Lion Feuchtwanger ganz realistisch, als er mit einem Abstand von Jahrzehnten seine Lebenserinnerungen schrieb. 

Da relativierte er vor allem die bedeutungsvoll politisierenden und nur sich selbst wichtig nehmenden deutschsprachigen Exilanten. Tatsächlich seien sie politisch völlig einflußlos gewesen, wurden in ihren Gastländern kaum gehört und blieben auf den Gang der Nachkriegsgeschichte ohne jede Wirkung.

Nur, wenn man in Sanary gemeinsam über die Briten herziehen konnte, bestand ein Grundkonsens „mit einem Hochmut, der eines de Gaulle würdig gewesen wäre“, formulierte es Sybille von Schoenebeck später maliziös. Dieser kleine gemeinsame Nenner wurde regelmäßig im Vorgarten des amerikanischen Schriftstellers William Buehler Seabrook überprüft und erneuert. Ihm billigte man die Narrenfreiheit zu, die Exponenten aller Lager auf sein neutrales Gelände einzuladen: „Die haute volée des deutschen Geistes mit seinen Geistinnen. Die Herren im Besten, was sie hatten, die Damen sogar mit Hütchen, aus längst verblühten Tagen.“ Dabei fiel Seabrook mit Badeschlappen, Fischerhosen und blankem Oberkörper erwartungsgemäß aus der Rolle.

 

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