Samstag, 25. Juli 2020

Mont Ventoux: Sterben am Berg

Wie man  sein Leben auf der Abfahrt von Mont Ventoux riskiert - und das bei Gegenverkehr und ganz ohne Doping - SEHEN SIE HIER . Nach rund sieben Minuten will der Fahrer mit seinem Rennrad eine Geschwindigkeit von 131,8 km/h erreicht haben. Und sie scheint kein Fake zu sein - diese Chronik eines dann doch nicht zustande gekommenen Todes. Kleiner Tip: Fahren Sie langsam runter, zum Beispiel mit nur 94,3 km/h; dann überholen Sie immer noch locker jedes Auto.

Die meistfotografierte Ansicht auf dem Weg zum Gipfel des Mont Ventoux ist seit 1967 ein weißer Gedenkstein, an dem Sie, kurz vor dem Gipfel vorbeifahren. Als Autofahrer jedenfalls. Jeder Radfahrer steigt an dieser Stelle ab, um ein kurzes Gedenken an Tom Simpson einzulegen und um einen persönlichen Gegenstand abzulegen, einen Handschuh, die ausgediente Sonnenbrille oder eine leere Wasserflasche.

Stilles Gedenken und Rastplatz zugleich
Hier ist der Radrennfahrer Simpson gestorben.
"No mountain to high, daddy",
haben seine Kinder auf den Gedenkstein gravieren lassen.

Seine letzten Meter sehen Sie HIER IM VIDEO , die Ausgabe des Guardian vom 14. Juli KÖNNEN SIE HIER NACHLESEN .

Ob sich tatsächlich nur Wasser im Simpsons Trinkflaschen befunden hatte, ist fast nebensächlich. In seinem Körper befand sich neben dem Cognac, der den gegen seine Magenbeschwerden getrunken hatte, jedenfalls zu wenig Wasser. Er dehydrierte. Das hing auch mit dem damaligen Reglement zusammen, das den Fahrern nur gestattete vier Halbliterflaschen mitzuführen.

An einem Freitag, einem 13., ist der erste englische Träger des Gelben Trikots auf der Tour-Etappe von Marseille nach Carpentras hier gestorben, an einer Überdosis von Amphetaminen; inzwischen wird das Doping ja besser beherrscht. Zahlreiche Sportjournalisten hatten die erste offizielle Diagnose übernommen: Hitzschlag. Als dann aber, nach den ersten Wiederbelebungsversuchen durch den Tour-Arzt Pierre Dumas noch vor Ort, Simpson ins Krankenhaus nach Avignon geflogen worden war und man die Leiche anschließend nicht zur Beerdigung freigab, war spätestens dann auch in der Öffentlichkeit klar, daß die Radheroen und die Tour ihre Unschuld verloren hatten.

Am nächsten Tag durfte Simpsons Teamkollege Barry Hoban, der später auch dessen Witwe heiratete, die Etappe nach Sète gewinnen. Nur noch selten ist der Ventoux Bergankunft einer Tour-Etappe. Das hängt ganz einfach damit zusammen, daß dort oben neben der Wetterstation nur noch der Kiosk von Madame Brusset ist und deswegen die großen Sponsorbeträge eines Wintersportzentrums wie Alpe d’Huez hier fehlen. Aber bei der einhundertsten Ausgabe der Tour durfte natürlich der „Kotzbrocken“, wie die Rennfahrer den Mont Ventoux nennen, nicht fehlen.


Wer von Malaucène aus als Nichtprofi auf den Berg startet, kann sich am Abend zuvor seine Kohlehydrate im Restaurant "Mon Ventoux" zuführen. Draußen neben der Speisekarte hängt ein Foto von Eddy Merckx, der darauf nicht gerade so aussieht, als könnte man ihm mit einem 13-Euro-Nudelmenue eine besondere Freude machen. Jedes Jahr kostet der Berg ein paar, in der Regel untrainierte Leben. Mancher schafft es wenigstens noch per Helicopter nach Avignon.



Freitag, 17. Juli 2020

Die Sommer des Peter Kurzeck in Barjac und Les Saintes Maries de la Mer

Es gibt den kölschen Text von Wolfgang Niedecken über Jupp, den er in einer Kneipe am Kölner Severinstor kennenlernt:
„Jo, dä Jupp trick jraad sing Sejel huh, un er nimmpt dich met, jedenfalls meint er et, un er verzällt sich fruh. Wie jeden Daach verzälld e, wat em wo passiert ess. In singer eijene Welt, janz ob sich selvs jestellt. Oh Mann, wer kann dat schon?“ *
Kurzeck kann das - in seiner eigenen Welt, ganz auf sich selbst gestellt. Jetzt ist er endlich da, Peter Kurzecks schon zwischen 1998 und 2001 geschriebener siebter Band über „Das Alte Jahrhundert“, der die Sommer 1983 und 1984 umfasst. Schon für 2017 war er vom Verlag Stroemfeld angekündigt, bevor er jetzt bei Schöffling, und betreut vom gleichen Herausgeber/Lektorenteam, erschien.

Wer den Süden Frankreichs liebt, findet leicht unterschiedlichste Gründe das Buch von Peter Kurzeck „Der vorige Sommer und der Sommer davor“ zu kaufen. Es ist ein Werk, in dem man immer wieder versinken kann, bestens mit einer Flasche Rosé an einem heißen Augusttag mit Blick auf die Ausläufer der Cevennen.

Und dann ganz banal: Es ist ein preiswertes Buch mit seinen 656 Seiten für 16 Euro; dabei unterstelle ich einfach, daß Sie es mindestens zweimal lesen. Wer dieses Sommerbuch nur einmal liest, überliest zuviel. Denn da entsteht, anhand der x-fach überarbeiteten und dann endlich zum Druck freigegebenen Notizen des großen Romanciers, ein Bild des Midi, wie wir es vielleicht selbst schon einmal gespürt haben, es aber nicht aufschreiben oder ausdrücken konnten. Und doch kommt einem alles so bekannt vor.

Nicht jeder empfindet Spaß an einer Kurzeck-Lektüre und manche haben sich erst beim zweiten oder dritten Buch in seinen unverwechselbaren Stil eingelesen oder lassen es dann spätestens ganz. Ist ja auch viel Arbeit, wenn man die vielen Worte, die er weglässt. Dazudenken muß, hätte Kurzeck schon nicht mehr geschrieben. Querlesen gilt nicht. Ehrlich ist er ja, der Autor, wenn er seine Freundin Sibylle sagen läßt:

„Eigentlich schreibst du deine ersten Kapitel, um die Leser abzuschrecken! Das nicht, sage ich, nicht direkt. Aber sollen wissen worauf sie sich einlassen.“ 
Für wen das Sommerbuch das erste Buch des Autors ist, der fängt am besten auf Seite 99 an und hört erst mal auf Seite 343 auf. Das ist die Geschichte dieser südfranzösischen Sommerreise mit Sibylle und der gemeinsamen Tochter Carina. Das Trio trampt nach Barjac, um Jürgen und Pascale zu besuchen, die dort ein letztlich erfolgloses Restaurant aufgemacht haben, und zieht von dort weiter ans Meer, nach Les Saintes Maries de la Mer, wo sie eine Ferienwohnung gemietet haben.

Mehr als in diesem einen Satz beschrieben, passiert auf den 244 Seiten über Südfrankreich nicht und doch sind es viele und dichte Bilder, die Kurzeck in uns entwickelt. Bilder von einer vielsprachigen Vermieterin in Gummistiefeln, goldenen Käfern und glücklichen Eidechsen, immer wieder Espresso, nicht gekauften Kleidern, Möwen, Zigeunerinnen in bunten Röcken, die ihn ansehen, als gehörte er zu ihnen und immer wieder dem fehlenden Geld.
Sara: Die für die Zigeuner wichtigste der "Marien"

Kurzeck, der 2013 mit siebzig Jahren und viel zu früh - vor allem für sich selbst und sein noch abzuarbeitendes Pensum - starb, war kein Schnellschreiber. Manchmal, so gesteht er uns, brauchte eineinhalb Tage, um einen angefangenen Satz überhaupt zu Ende zu schreiben. Hier zusammengefügt ein paar Zitate von den Seiten 35, 113, 115, 213, 219, 280, 292 und 625:


„Ich muß einen Moment beschreiben, auch wenn ich zehn oder zwanzig Jahre dafür brauche. Ich schreibe auf Papierservietten, Bierdeckel, Zigarettenschachteln, Tesafilm, Packpapier, Käseschachteln aus Spanholz und Schmirgelpapier. Lesen, korrigieren, umschreiben, dann Notizen sortieren und auf bessere Zettel übertragen. Nach und nach wird aus den Zetteln ein Anfang. Lesen, ändern, dazu schreiben, bis man es kaum noch lesen kann und nächstens bald wieder abtippen muß. Manchmal muß mein Freund Jürgen mit einer Lupe meine Notizen entziffern. Jeden Abend eine neue Reinschrift.“
Wer so radikal-autobiografisch arbeitet, macht es sich selbst nicht leicht, vor allem aber denen nicht, die ihn, oft dann nur ein kurzes Stück auf dem Weg begleiten. Kurzeck-Freunde sprechen von ihm als ihrem ehemaligen Freund und auch Sibylle ist bald weg und nimmt Carina mit. Und dann antwortet Kurzeck:
„Was denkst Du, wie anstrengend es für mich ist, daß ich immer ich bin!“
Kennengelernt haben wir uns 2011 in Uzès. Mit der Bemerkung, ich sei eben noch dem Schriftsteller Peter Kurzeck begegnet, hatte ich eine Verspätung gegenüber meiner Frau ins literarisch rechte Licht rücken können. Unseren Thé à la menthe haben wir meist im «L’Oustal» getrunken. "Rund um die Uhr reicht die Zeit nie ganz aus", räsoniert der Ich-Erzähler in seinem Roman "Als Gast", und lieferte das zeitliche Argument für die Entschuldigung gleich mit.

Der in Böhmen geborene Vielfachpreisträger lebte einige Zeit als sorgfältiger Archivar der eigenen Biographie immer mal wieder auch mitten in Uzès und inventarisierte seine Umgebung; und mehr noch seine Erinnerungen. Und wenn dann die Nachmittagssonne Schattenspiele der Platanen in sein Arbeitszimmer projizierte und der Nachbar nicht gerade in einem Renovierungsanfall mit dem Bohrer neben Kurzecks Bett die Wand durchstieß, konnte er in Ruhe die zehnte Korrektur seiner getippten Texte zurechtfeilen. Ob und wann er den meiner Frau vor einigen Jahren beim «Hausacher Leselenz» im Schwarzwald versprochenen Uzès-Roman abliefern würde, hat sie mit viel Geduld und bis zu seinem Tod abgewartet. Bisher leider vergebens.

Aber vielleicht hat Günter Kämpf, der Gründer des Anabas Verlages, in der Wohnung in Uzès noch etwas gefunden? Er hatte mit seiner Frau dort die Wohnungsauflösung abgewickelt. Dann wären Rudi Deuble und Alexander Losse an der Reihe, die mit dem Sommerbuch eine bewundernswerte editorische Arbeit erbracht haben. Besser hätte Kurzeck das auch nicht hinbekommen. Nur wäre dann das Buch noch nicht erschienen.




Peter Kurzeck: Der vorige Sommer und der Sommer davor.
Das alte Jahrhundert 7. Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt, 2019. 656 S., 32 €
Aus dem Nachlaß herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Rudi Deuble und Alexander Losse.

Einige der hier verwendeten Bilder entstammen der Kurzeck-Biografie von E. Schmied.


* Ja, der Jupp zieht gerade seine Segel hoch, und er nimmt dich mit, jedenfalls meint er es, und er erzählt sich froh. Wie jeden Tag erzählt er, was ihm wo passiert ist. In seiner eigenen Welt, ganz auf sich selbst gestellt – oh Mann, wer kann das schon?


Samstag, 11. Juli 2020

Rosé, Platanen, Lavendel und ...

Schatten weg, Gläser leer
Frischkalter Rosé im beschlagenen Glas und das Klicken der Boule-Kugeln unter lichtem Platanenschatten … das reicht doch für den Anfang. Wer schon mal an der Côte d’Azur sonnengebadet hat, war noch nicht in Südfrankreich. Aber auch nicht, wer auf dem Weg nach Spanien in irgendeinem der austauschbaren Novotel, Mercure, Ibis oder - ganz billig und einzig auf den Zweck des einmal Übernachtens ausgerichtet - Formule 1 übernachtet hat.
"Man sieht wenig von der Welt, wenn man nur die eigene Langeweile durch fremde Länder trägt“,
so der Schriftsteller Cees Nooteboom. Einen umfassenden Überblick über das Werk des Niederländers, der zwar durch Südfrankreich gereist ist, aber meist auf den Balearen lebt,  bekommen Sie im Kulturmagazin "Perlentaucher" und über diesen LINK. Mit inzwischen über achtzig Jahren ist er immer noch gut in Form und hat seine Reporter-Neugier behalten.
"Als Reporter erlebte er Weltgeschichte, als Autor teilt er mit uns den Außenseiterblick aufs Überflüssige, aufs Rauschen der Zeit und das Vorübergehende der Menschen."
Dies schrieb ihm Dirk Schümer im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ 31.7.2013) zum Geburtstag.

Wenn wir dagegen den Spuren der Literaten folgen, findet sich alles andere, was den Midi ausmacht, wie von selbst. Pastis, Boule und Bouillabaisse, Sonne, frischkalter Rosé im beschlagenen Glas und lichter Platanenschatten, Stiere, Thymian und Lavendel (HIER im VIDEO) und was einem an Assoziationen so sonst noch einfallen mag zu einer Region und einem Klima, die Kurt Tucholsky deshalb so beneidenswert fand, weil sie „den lieben Herrgott um seine Jahreszeiten betrügen“.


Alles Betrüger ?
Gelegentlich wird natürlich auch beim Boulespiel betrogen. Was Erdbeermarmelade und Quecksilber damit zu tun haben, lesen Sie in meinem Buch "Durch den Süden Frankreichs" (erschienen bei Nimbus, 700 Seiten, 1.000 Bilder, 32 €)

Samstag, 13. Juni 2020

Coles angeblicher Provence-Krimi

Manchmal muß man sich durchquälen. Zum Beispiel durch die mörderischen Machenschaften von Anthony Coles, wo die Geschichte frühestens nach der Hälfte der 363 Seiten etwas Fahrt aufnimmt. Vorher schreibt er einige Dinge über sein Unternehmensberaterleben und wie man mit den immer gleichen Strategie- und Marketing-Plattitüden seinen Kunden den Eindruck vermitteln könne, etwas Neues zu erfahren. Auch sein Privatermittler Peter Smith scheint einige Grundkenntnisse in Betriebswirtschaft zu besitzen und hat zudem das Buch „IT-Verschlüsselungstechnik für Dummies“ gelesen.

In Ulm und Peking könnten die Server stehen, die in diesem Buch gehackt werden.

Ein „Provence-Krimi“ soll es sein. Lokalkolorit allerdings: Fehlanzeige. Auch wenn er aus der eingesessenen Familie Aubanel die Familie Aubernet macht. Auch wenn von der Camargue und einigen Wegen durch Arles, die sich auf die Aufzählung von Straßennamen beschränkt, die Rede ist. Die Beschreibung der Alpilles jedenfalls ist so formuliert, wie es Herr Wikipedia auch machen würde, wenn er einen Roman schreiben sollte und sich nur bei sich selbst informieren dürfte. Dieses Buch könnte auch in Ulm oder Peking spielen - wo Smith die Server vermutet, auf denen sein Gegenspieler seine schmutzigen Geheimnisse versteckt.

Coles scheint im übrigen eher ein Befürworter des Brexit zu sein, weil er von den Abertausenden von Akteuren und Institutionen spricht, die die EU-Millionen auf illegale Weise für sich abzwacken (S. 195). Und politisch ganz links steht er auch nicht, sonst würde er vielleicht nicht von der Zigeuner-Mafia der Camargue sprechen. Und nicht einmal seinem Landsmann Peter Mayle kann er in einem


unpassenden Seitenhieb etwas abgewinnen. Dabei hätte Coles in „Toujours Provence“ wunderbar nachlesen können, wie man den Midi seinen Lesern näherbringt. Jedenfalls nicht mit einer Soße, die Smith vorrangig aus Hartwurst kocht. Damit bestätigt er allenfalls die Einschätzung von Mayle, daß nämlich die Engländer ihre Tiere zweimal töten, einmal beim Schlachten und danach zusätzlich beim Kochen.


Paul Bransoms Illustration
zum "Wind in den Weiden"
„Wenn James Bond im Ruhestand wäre, wäre er wie Peter Smith“ -das hat sich ein Werbetexter einfallen lassen, der entweder noch nie einen Roman von Ian Fleming oder einen aus der Arles-Serie von Anthony Coles gelesen hat. Der Übersetzer Michael Windgassen dürfte seine Schwierigkeiten gehabt haben, das, was für Cole scheinbar britischer Humor ist, ins Deutsche zu übertragen, vor allem wenn das, auch für die Leser, ordentliche Kenntnisse englischen Kinderliteratur voraussetzt. Kenneth Grahames vor über hundert Jahren geschriebener „Wind in the Willows“ wird ja sicher jedem geläufig sein. Dann versteht man auch, was Coles mit dem folgenden Satz auf Seite 160 meint: „Plötzlich überkam ihn einer jener „Wind in den Weiden“-Momente, und wie den Maulwurf aus dem Kinderbuch zog es ihn hinaus, auch wenn er auf den beschwichtigenden Einfluss einer lebenstüchtigen Wasserratte würde verzichten müssen.“ Tatsächlich wollte er nur mit seinem Hund Gassi gehen.

Ganz gegen Ende wird das Buch etwas besser – vor allem, weil es dann zu Ende ist. Diese Bemerkung ziehe ich eventuell als zu gehässig zurück.

Kaufen Sie sich lieber eines der Bücher von Liliane Fontaine, übrigens auch bei Piper erschienen – dann haben sie Südfrankreich und Krimi und Lesefreude pur!

Anthony Coles: Ein Gentleman in Arles: Mörderische Machenschaften. Piper. 10 €

Donnerstag, 11. Juni 2020

Magali's Glücksorte an der Côte d’Azur


Kommunikation und Information comme il faut

Sie wissen nicht, was Ihnen alles entgeht, wenn Sie ohne dieses Buch an die Côte d’Azur fahren. Man merkt: Hier schreibt jemand, die sich auskennt, die dort lange gelebt hat und die Sie nicht einfach an jenen Orten „absetzt“, über die Sie sowieso schon alles in jedem normalen Reiseführer gelesen haben. Wie wichtig solche Informationen aus erster Hand sind, merke ich, als ich Covid-19-bedingt im Midi festhänge und einen Spaziergang zur Anzeigetafel vor der Mairie unseres Dorfes mache. Im Februar ging ein Hund** verloren…aber das war es auch schon. Mit diesem Buch können Sie eine informative Augenreise an die Côte machen, auch wenn Sie in diesem Jahr garnicht hinfahren*.

Natürlich führt dieses sehr persönliche Buch dazu, daß nicht jeder der Glücksorte der Magali Nieradka-Steiner tatsächlich auch für jeden anderen Leser ein Glücksort sein muß. Zum Beispiel das

„Bonheur des Cocottes“ in der Rue Lascaris in Nizza, in dem frau sich mit Bändern, Schleifen und vor allem Hüten, Hüten und Hüten glücklich fühlen kann. Immerhin gibt es dort für das andere Geschlecht Hosenträger in allen Farben und aus vielen Materialien. Zudem können die Männer ihre Phantasie spielen lassen, in diesem kleinen Raum, der dem Boudoir einer eleganten Halbweltdame des 19. Jahrhunderts nachempfunden ist. Natürlich heißt ein solcher Ort heute anders: Das sei ein Retro-Concept-Store, habe ich mir von meiner Madame sagen lassen. Und die Franzosen nennen es einfach einen "Love-Spot" und sehen


darüber hinweg, daß sie normalerweise garnicht der besonderen Freunde der Anglizismen sind.

Beantworten Sie einfach einmal ein paar der folgenden Fragen. Wenn Ihnen das auch nur zur Hälfte gelänge, brauchen Sie das Buch nicht zu kaufen – ansonsten ist es unverzichtbar. Also: Was hat es mit der „Vier-Uhr-Welle“ in Nizza auf sich? Wo hat der Japaner Jasuo Beppo seine Oase der Stille an einem sonst eher dröhnend lauten Ort gestaltet? Wo können Sie in einem Gehege mitten unter Wölfen übernachten? Wo können Sie sich Filmausschnitte mit Roberto de Niro, van Damme und James Bond an den Hauswänden der Drehorte ansehen? Wo können Sie mit der regulären Straßenbahn eine nächtliche Fahrt durch ein durch ein Freilichtmuseum machen? Wo haben sich Renoir, Matisse, Monet und Picasso getroffen? Wieviele richtige Antworten geben Sie mir? Eine oder doch zwei?

Anflug auf Nizza in den Landesfarben.
Über die weißen Alpen, die roten Esterel-Felsen und das blaue Mittelmeer.
Kann trotz "Flugscham" auch ein Glücksort sein
 
Da sehen Sie‘s! Also auf in die Buchhandlung. Nicht nur 80 Fragen, zu jedem Glücksort eine, könnte ich Ihnen stellen, sondern sogar 111, aber dann wäre der Droste Verlag in Köln und nicht in Düsseldorf.
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 * Mit dem vielen gesparten Geld können Sie sich dann leicht zwei weitere Bücher leisten: Nieradka-Steiner's lesenswerte Darstellungen über Thomas Mann (Exil unter Palmen) und Franz Hessel (Der Meister der leisen Töne).
 ** Der Hund ist übrigens wieder da.

Magali Nieradka-Steiner: Glücksorte an der Côte d’Azur. 168 Seiten. Droste Verlag 15 €

Donnerstag, 4. Juni 2020

Liliane Fontaine: Die Richterin und die Tote von Pont du Gard

Liliane Skalecki in Nîmes. Bild GS
Abrivado-Bandido in der Camargue



Liliane Fontaine, so ihr Mädchenname und das Pseudonym, führt uns an die schönsten Orte im Süden Frankreichs, also ins Languedoc. Die Kunsthistorikerin kennt sich aus dort, verbringt jedes Jahr ein paar Wochen dort und das merkt man besonders, wenn sie uns in die kleinen Orte führt, etwa nach Uzès oder zu den Überresten der Benediktiner-Abtei von Psalmody oder zum Abrivado-Bandido nach Ribaute-les-Tavernes.
„Ich liebe die Sonne, ich liebe die Lebensart. Es ist ein ganz besonderes Gefühl, über die Märkte zu schlendern, die Markthallen zu besuchen. Es sind die Wärme und die Gerüche. Ich lebe und atme dort auf, und es ist für mich schon immer eine zweite Heimat gewesen. Es ist dieses Lebensgefühl,“
sagt Fontaine in einem Interview mit Magali Trautmann vom Weser-Kurier. Den Orten des Romans begegnet man auf der Homepage der Autorin.
 

Das Buch ist Kriminalroman und Reiseanreger in Einem. Ein Kriminalroman, den man nicht nur als Krimi lesen sollte; dafür bietet er zu viele Anregungen, bis hin zum samstäglichen Flohmarkt in Sommières, auf dem die Autorin vielleicht selbst einmal für zehn oder zwanzig Euro die 1805 bei Buisson in Paris erschienene Erstausgabe von Philippe Grouvelles „Mémoires historiques sur les Templiers“ gefunden hat, wunderschön ausgestattet mit dem marmorierten Schnitt. In Antiquariaten kostet das Buch eher 350 Euro.

In Fontaines Roman verstehen sich zwei besonders gut, die das im normalen Frankreich eher nicht tun: Die adelige Untersuchungsrichterin Mathilde de Boncourt, die nach einem Anschlag eine Auszeit auf dem Familienschloss nimmt, das von 75 Hektar Rebfläche umgeben ist, und Rachid Bousaada, der Kriminalkommissar mit algerischen Wurzeln. 

 
Dann gibt’s noch einen deutschen Reiseschriftsteller, der mit knappem Zeitbudget sein nächstes Buch fertigstellen soll. Und wir stoßen früh auf eine 1941 erfolgte Flucht aus dem Konzentrationslager Les Milles bei Aix-en-Provence, die mit einem

Durchgangslager für mehr als 3.000 Gefangene: Les Milles
Unglück endet. Glaubwürdig werden diese scheinbar so unterschiedlichen Handlungsstränge zusammengeführt. Und dann knistert es auch zwischen dem deutschen Autor, der den jüdischen Spuren seiner Familie folgt, und Madame le Juge.

Die Richterin und ihr Kommissar ermitteln bei Ärzten, Notaren und ehrgeizigen Regionalpolitikern) und suchen die Drahtzieher eines Mädchenhändlerrings. Ein vierzehnjähriges Mädchen wird vom Pont du Gard gestoßen.
 

Junge Frauen, manchmal sind es noch Kinder, werden aus Nordafrika und Osteuropa importiert, von der besseren Gesellschaft als (Sex)Sklavinnen gehalten und nach Verbrauch entsorgt. Oft sieht es zunächst nach Selbstmord aus. Obwohl alle wissen, dass es anders gewesen sein mußte, führt Justitia nicht zu einem für alle gerechten Ergebnis.

Ein spannender und elegant geschriebener Krimi aus dem Midi, der zugleich zahlreiche Reisetipps für besondere Orte enthält.

Erschienen bei Piper für 10,30 €

Freitag, 29. Mai 2020

Vauvenargues: Moralisches aus Picassos Schloß


Vauvenargues von Charles Amadée Colin (19. Jh.)
Luc de Clapiers, der Marquis von Vauvenargues, kam erst spät zu Philosophie und Literatur und hatte nur wenig Zeit seine Moralphilosophie zu zu denken und aufzuschreiben. Mit knapp dreißig Jahren mußte er den Dienst in der Armee quittieren; ihm waren im Polnischen Erbfolgekrieg die Beine erfroren. Und vier Jahre später (1747) war es bereits tot.

Clapiers sagt man den Ausspruch nach, er habe sich erst nach dem Verlust der Beine auf die wesentlichen Dinge konzentrieren können. Und das waren neben der

„Einführung in die Erkenntnisse des menschlichen Geistes“
vor allem die „Maximes“.

Voltaire hat sie sehr geschätzt und daraus Inspiration für manches seiner Bonmots gezogen - um den Begriff Plagiat zu vermeiden. Diese Aphorismensammlung schrieb Clapiers in Vauvenargues, einem Schlößchen ein paar Kilometer außerhalb von Aix, das später Pablo Picasso gekauft hat. Mit dem Gebäude hat Picasso ein riesiges, rund eintausend Hektar großes Gelände erworben, das sich zum Montagne Sainte Victoire hinaufzieht. Der neue Eigentümer habe den Berg Cézannes dann „picassofiziert“, wie eine angesehene französische Zeitung dann nach oberflächlicher Recherche schrieb.


Es bleibt Cézannes Berg. Der Sainte Victoire läßt sich nicht einmal "picassofizieren".Bild D. Fehringer
Zum Beispiel hätte man einfach mal fragen sollen, wie viele Bilder des Berges Picasso denn gemalt habe? Wie immer ließ sich Picasso auch hier von seinen Frauen, Häusern und Landschaften inspirieren: Hier malte er in einem Jahr weit über hundert Bilder von Jacqueline Roque. Eines davon, es heißt „Weiblicher Akt unter Pinie“, zeigt den Berg in einem verschmelzenden Übergang zu Jaquelines Hand, die die steile Westflanke bildet. Aber nie hat er den heiligen Berg alleine gemalt. Wenn Picasso von Cézanne sprach, hieß es immer respektvoll „Monsieur Cézanne“. Und dieser Respekt kam auch darin zum Ausdruck, daß Picasso bei den drei Ansichten des Dorfes Vauvenargues, die er in jener Zeit malte, Cézannes Berg den Rücken zudrehte.
Für Picasso eine Sekundenentscheidung, das Schloß zu kaufen.      Bild CCI Marseille 1957
Das Schloß zu kaufen war für Picasso Liebe auf den ersten Blick. Nur von 1959 bis 1961 hat Picasso in Vauvenargues gelebt - aber seit 1973 liegt er in Vauvenargues begraben. Sechs Tage dauerte es, bis die Grabstelle aus dem harten Fels herausgehauen war. Hier hatte er damals wie jetzt die Ruhe gefunden, die er an der Riviera vermisst hatte, malte nächtelang am offenen Fenster und zum Gesang der Nachtigallen.

Wenn Sie je die Chance haben, das Schloß zu besuchen: Tun Sie es. Fünfzig Jahre nach dem Einzug Picassos, hat Catherine Hutin, Jacquelines Tochter aus erster Ehe, es erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das war, als das Musée Granet in Aix im Jahr 2009 über einhundert Bilder von Cézanne und Picasso ausstellte. Und wenn Sie ganz viel Glück haben, können Sie sogar die Super-8-Filme sehen, die Jacqueline mit und über Picasso gedreht hat.


Zahlreiche Bilder aus dem karg eingerichteten Schloß hat Picassos Freund David Douglas Duncan gemacht. Während des Korea-Krieges war er Kriegsberichterstatter für das US-Magazin "LIFE".




 



Samstag, 16. Mai 2020

Resistance-Kämpfer und Dichter René Char: Der Tod des Freundes

In Isle-sur-Sorgue ist René Char 1907 zur Welt gekommen und in seiner Heimatregion kämpfte er als sehr frühes Resistance-Mitglied als „Capitaine Alexandre“ gegen die deutschen Besatzungstruppen. In seinem Werk verarbeitete Char immer wieder Begebenheiten aus seiner Zeit im Widerstand, so auch den Tod seines Dichterfreundes und Mitkämpfers Roger Bernard. Bernard wurde auf dem Weg zu Char erschossen. In „Hypnos“, seinem bekanntesten Buch, vermacht uns Char letzte Texte seines Freundes:

„Dann plötzlich betrachtet
der verstümmelte Kopf den Boden,
und die Sonnenblume stirbt,
und frisches Schluchzen zerfällt in Kristalle.“

Und Char beklagt:
„Dies ist der Dichter, den wir verloren haben.“

Zuvor hatte Char erfreut gesehen, wie der junge Drucker Bernard sich vom Leser zum Schreiber entwickelte.

„Begierig, ans Werk zu gehen, sich zu vervollkommnen verbringt der Heranwachsende lange Abende über die Bücher gebeugt, vertraut mit dem Unbezwingbaren, das er schließlich darstellen kann; daher rührte auch eine frühzeitige Schwäche seiner sehr blauen Augen, die in eine Legierung von Nordsee und Lavendel getaucht schienen.“

Char als Held der Resistance                 Bild Vimeo


Zwischen zwei Sabotageakten habe Bernard ihm neue Gedichte vorgelesen.

„Als Kurier auf dem Weg zum Kommandoposten von Céreste fällt er am 22. Juni 1944 den Deutschen in die Hände. Da er sich weigert, auf die ihm gestellten Fragen zu antworten, wird er wenig später auf der Landstraße erschossen. Ein Maulbeerbaum und ein zerstörter Bahnhof sind die nächsten Zeugen seines Todes.“


Freitag, 1. Mai 2020

Collioure: Immer noch Post für den toten Dichter Antonio Machado

Das Grab Antonio Machados mit dem Briefkasten hinten rechts
und der republikanischen Flagge. Bild Marc Meurrens Wiki cc.
Ein Rätsel bleibt weiter ungelöst. Auf dem alten Friedhof von Collioure befindet sich das Grab des spanischen Lyrikers Antonio Machado, der kurz vor dem Ende des spanischen Bürgerkrieges gemeinsam mit seiner Mutter über die verschneiten Pyrenäen nach Frankreich geflohen war. Kurz darauf und nur drei Tage vor dem Tod seiner Mutter starb er in aller Einsamkeit, die auch das zentrale Thema seines Werkes war. Sein Erstlingswerk aus dem Jahr 1903 war bereits mit dem Titel Soledades, Einsamkeiten, überschrieben. Machado schrieb reduzierte Gedichte, etwa über das Spiel der Kinder auf dem Dorfplatz:

„Die Kinder sangen harmlose Lieder
von einem vorbeiziehenden Etwas,
das niemals am Ziel ist.
Wirr die Geschichte,
klar nur das Lied.“


„Nach der Wahrheit gibt es nichts Schöneres als die Phantasie“, schrieb er einma. Im katalanischen Bewußtsein ist er als Dichter, Philosoph und Lehrer verwurzelt. In der viele Jahre später, 1970 erst, gehaltenen Totenrede von Ambrosi Carrion, hier der ganze Text, zitiert dieser die letzten Worte, die Machado seinem Lehrer Francisco Giner de los Rios mit auf den Weg gab: „Und zu einem anderen, reineren Licht brach der Bruder der Morgendämmerung auf.“

Auf dem Grab, wie zufällig abgestellt, aber fest installiert befindet sich ein Briefkasten, in den immer noch Post seiner zahlreichen Verehrer hineingeworfen wird. Was es damit auf sich hat und ob die Post vielleicht sogar von höherer Stelle beantwortet wird, das können selbst die Dauergäste des Friedhofs nicht beantworten. Das Grab Machados schmückt auch heute noch eine verschlissene, wie achtlos über den Grabstein gelegte, aber alle paar Jahre erneuerte Fahne der spanischen Republik.

Samstag, 25. April 2020

Les Baux-de-Provence: Yves Brayer und sein Museum

Im Hôtel des Porcelets in Les Baux–de-Provence befindet sich das in ganz Südfrankreich beworbene Museum von Yves Brayer. Vor allem seine Bilder aus Italien sind hier ausgestellt, obwohl der Künstler lange in Les Baux lebte und auch hier begraben liegt.
Brayers  Les Baux aus dem Jahr 1963 und der Eingang zum Museum. Bilder Museum
Viele seiner provenzalischen Motive sind immer noch im Kunsthandel zu erwerben und liegen preislich inzwischen im unteren fünfstelligen Bereich. Die Galerie 26 in Paris, an der Place des Vosges, an der Simenons Maigret so gerne gewohnt hätte, ist hier eine gute Adresse.

Dreißig Jahre zuvor waren Brayers Bilder auf Flohmärkten noch für 500 Francs zu haben, wenn es denn echte waren, denn Brayer gehört sicher zu denen, die sich leicht kopieren lassen. Das ist ein weites Feld, denn in der Juristendenke kann ein „falsches“ Bild „echt“ sein und auch die „Fälschung“ ein „Original“. 


Hier ein originaler van Gogh, also ein selbstgemalter, von irgendwem in China.
Preis inklusive Rahmen 25 Dollar, also voraussichtlich kein echter.
 Als Gauguin nach Arles kam, um Vincent van Gogh zu besuchen, zeigte der ihm die unsignierte Kopie eines Bildes von Jean François Millet. Auf die Frage, ob es ein Original sei, antwortete Vincent voller Überzeugung:

„Natürlich, ich habe es ja selbst gemalt!“
 Die Episode könnte so stattgefunden haben, könnte aber auch nur eine plausible Geschichte sein.

Dies als Warnung oder Anreiz, wenn Sie vorhaben, sich als Mäzen einer der zahlreichen Straßenkünstler der Region zu engagieren. Einen Überblick über Ausstellungen und Events bietet zuverlässig, und in den Bewertungen erfrischend subjektiv, die an vielen Stellen kostenlos ausliegende Zeitschrift „l‘Art...Vue“. 


Auch wenn Sie weiter im Südwesten unterwegs sind, können Sie sich in Cordes-sur-Ciel im Departement Tarn im dortigen Musée d'Art Contemporain et Moderne einen Saal mit Brayer-Bildern ansehen - HIER im VIRTUELLEN RUNDGANG.


Yves Brayer: Pinienallee in Saint Paul de Mausole, 1946. Bild Museum