Samstag, 15. Dezember 2018

Französische Konzentrationslager: Schlamperei bis zur Grausamkeit


Die Ziegelei von Les Milles bei Aix-en-Provence war Internierungslager für bis zu dreitausend Häftlinge
 
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, wurden zehntausende deutschsprachiger Flüchtlinge und Geschäftsleute - in Paris sogut wie in Südfrankreich - in Lagern, oft alten Fabriken, wie in Les Milles bei Aix-en-Provence, oder Stadien, wie in Paris und Antibes, interniert. Aus zunächst nur verdächtigen Individuen waren „feindliche Subjekte“ geworden. Ganz Frankreich hatte Angst vor der Unterwanderung durch Hitlers Agenten – und neben ein paar Nationalsozialisten waren es vor allem diejenigen, die vor Hitler geflohen waren, die nun eingesperrt wurden.

Diese französischen Konzentrationslager waren aber nun in keinster Weise mit den nationalsozialistischen Vernichtungslagern zu vergleichen, obschon auch hier viele Insassen zu Tode kamen; in den meisten Fällen aufgrund schlechter hygienischer Verhältnisse und fehlender ärztlicher Versorgung sowie aufgrund der mangelnden Verpflegung.


Hofgang und Mittagessen in Les Milles      Bild Camp des Milles
Selbst auch in den Autobiographien, Erinnerungen und Briefen der Lagerinsassen spielen skurrile Begebenheiten immer wieder eine Rolle. Vor allem Lion Feuchtwanger hat in seinem Buch „Der Teufel in Frankreich" viele solcher Geschichten aufgezeichnet.

"Kondensmilch, in keinem Restaurant mehr aufzutreiben, war im Lager von Saint Nicolas zu haben oder gebackenes Huhn mit Gurkensalat ab mittags um zwölf neben Zelt 54, neue Füllfederhalter, Schweizer Zeitungen und sogar ein ausgezeichnet nachgemachter polnischer Paß, geeignet für Herren zwischen vierzig und fünfzig, für nur 3000 Franken“.
Die französischen Wachoffiziere hatten es sich abgewöhnt, zum Essen in eines der umliegenden Restaurants zu fahren. Im Lager gab es alles preiswerter, reichlicher und vor allem von deutschen und österreichischen Köchen in ihren improvisierten Küchen einmal ganz anders zubereitet.

Die Kontrollen, gerade in Saint Nicolas, waren meist ausgesprochen oberflächlich. Ausflüge waren zwar nicht genehmigt aber möglich, Besuch durfte empfangen werden, sogar Damenbesuch. Ohne weiteres konnte man sich aus dem Lager entfernen, mal nachmittags zum Schwimmen an den Gard gehen oder sogar einen oder zwei Tage in Nîmes verbringen. „Jeden Tag“ so schrieb der Walter Meckauer in sein Tagebuch, „nahm der Sergeant auch einige Tagesurlauber in die Stadt mit, vorausgesetzt, daß wir ihm die üblichen sieben Francs zahlten“. Und Feuchtwanger nahm den Faden auf: „Hatte man die Stadt einmal erreicht, dann konnte man sich leicht verlieren in der ungeheuren Menge der Flüchtlinge, die von Norden kam. Viele von uns stiegen denn auch hinunter in die Stadt, aßen in einem der guten Restaurants, schliefen in einem guten Bett, gönnten sich ein gutes warmes Bad. Am anderen Morgen dann fuhren sie sehr früh in einer Autodroschke zurück, ließen in der Nähe des Lagers halten, krochen unter dem Stacheldraht her, schlichen sich in ihr Zelt und waren zum Morgenkaffee brav wieder da."

Das Lager, schrieb Feuchtwanger, sei

„ein einziger großer Rummelplatz. Cafés, Verkaufsbuden, eine neben der anderen, säumten die Straßen der Zeltstadt. Hausierer zogen durch diese Straßen von fünf Uhr morgens bis ein Uhr nachts und schrien ihre Waren aus.“
Einige Kilometer vom Lager entfernt, in Collias „in der Nähe einer angenehmen Badestelle fand sich ein ländliches Restaurant von bester französischer Tradition“. Wenn man sich einen Tag zuvor den Tisch reservierte, konnte man sicher sein, „ein mit Sorgfalt und Geschmack zusammengestelltes Mahl zu erhalten“. Zum Beispiel

„vielerlei Hors d‘Oeuvre, dann ein ausgezeichnetes Fischgericht, dazu einen leichten Elsässer, dann gab es Perlhuhn mit Salat und Kartoffeln, dazu einen anständigen Burgunder, dann eine Süßspeise, dazu einen schweren, algerischen Wein, dann vielerlei Obst und eine wohl assortierte Käseplatte, dann Kaffee und alten Kognak“.

Wandmalerei im Lager: Freiheit, Leben, Friede                  Bild Camp des Milles
Feuchtwanger verarbeitete diese Zeit in seinem Buch „Der Teufel in Frankreich“. Zunächst hatte er „Unholdes Frankreich“ als Titel vorgesehen, den er dann in Anspielung an das Sprichwort vom „Leben wie Gott in Frankreich“ und den Bestseller von Friedrich Sieburg „Gott in Frankreich?“ dann änderte.

André Fontaine, einem Deutschlehrer aus Aix-en-Provence, kommt der Verdienst zu, die Geschichte eines der bekanntesten Lager, des Lagers von Les Milles, über mehr als zehn Jahre hinweg gründlichst und weltweit in Archiven recherchiert zu haben. Fontaine besitzt inzwischen eine umfangreiche Samlung von Briefen, Bildern, Fotos, hat die Gespräche mit den damaligen Gefangenen und ihren Bewachern 
Im Speisesaal von Les Milles: Immer Hunger
dokumentiert. Vor allem ist es ihm und dem späteren ersten Direktor der Gedenkstätte, Alain Chouraqui, zu verdanken, daß die von den Gefangenen gemalten Wandbilder im Lager nicht zerstört worden sind.

Lange hat Fontaine gebraucht, um einen Verleger zu finden. Erst mit Unterstützung von Alfred Grosser, der auch ein Vorwort beisteuerte, ist ihm dies gelungen: „Wir lieben es in Frankreich nicht, zuviel


über die negativen Aspekte unserer nationalen Vergangenheit zu wissen. Selbst unsere Geschichtsbücher sind sehr diskret, die Forschung vermeidet diese dunklen Momente, wenn es nicht möglich ist, dafür entweder eine Person oder eine Minorität zu finden, die man als Sündenbock benutzen kann.“

Golo Mann, Sohn von Thomas Mann, der gemeinsam mit Max Ernst und Lion Feuchtwanger, um hier nur zwei zu nennenn, in Les Milles eingesperrt war, hat in seinem Tagebuch die Zeit im Lager zusammen gefaßt: „Erfahrene sagen, daß es schlimmer sei als Dachau; das ist natürlich Unsinn. Wahr scheint mir nur dies: Die Deutschen organisieren die Grausamkeit sauber und genau; die Franzosen können, ohne viel darüber nachzudenken, Schlamperei und Unfähigkeit bis zum Grausamen treiben.“