Samstag, 22. Dezember 2018

Cannes: Selbst Maigret ist alles verboten


Spielen, Surfen, Hunde, auf Stühlen sitzen
und Stöckelschuhe: ALLES VERBOTEN
Klaus Mann hätte seine Freude gehabt an nebenstehendem Bild. Verbote liebte er über alles und berichtete in seinem mit Schwester Erika geschriebenen "Buch von der Riviera" entsprechend spöttisch. Manchmal ruft die Stadt den Eindruck hervor, als bestehe sie vorrangig aus Verbotsschildern. Sogar vor dem wunderschön, gegenüber dem Hafen, und praktisch, gegenüber dem Messegelände, gelegenen Hotel Splendid findet sich ein Schild, daß Boule hier verboten sei. Cannes liegt eben nicht in Südfrankreich, sondern nur an der Côte d'Azur.

Wenn das Boulespiel wegen des lauten Klickens der aneinanderstoßenden Kugeln verboten dann, dann fragt man sich, warum den Engländern während der Gewerbeimmobilienmesse MIPIM, die Tageseintrittskarte kostet mehr als 1.500 Euro, das Trinken in der Bar des Splendid nicht verboten ist. Sie haben die Bar die vor alles tagsüber zu ihrem alkoholischen
Hauptquartier erwählt und - man kann es nicht anders nennen - saufen sich hier schon tagsüber den Messefrust von der Seele. In Fünferreihen, ab 14 Uhr in Zehnerreihen stehen sie bis auf die Straße.

Ähnlich wohl wie sein Kommissar Maigret fühlte sich auch Simenon in Cannes, wo er zwei Jahre in der „Villa Golden Gate“ wohnte. Nach seinem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten war er froh, sich wieder regelmäßig mit Pagnol, Cocteau und vor allem Henry Miller treffen zu können. Simenon war zum Präsidenten der Jury des Filmfestivals berufen worden, auch Miller war Jury-Mitglied und die beiden waren von Anita Ekberg so begeistert, daß sie ihr für „La Dolce Vita“ die „Goldene Palme“ verliehen. Übergeben wurde der Preis, wie es sich gehört, an Federico Fellini; verdient hatte ihn sich die Ekberg.


Anita Ekberg in einer Fotografie aus dem Jahr 1956.                   Bild Wiki cc

Ob nun Simenon wirklich mit achttausend Frauen geschlafen hat, wie er sexprahlend-senil in einem „Sunday- Times“-Interview erzählte oder ob es nur die eintausendzweihundert Prostituierten waren, die eine seiner Frauen ihm zutraute, spielt weniger eine Rolle. Verbraten hat er diese Geschichten natürlich nicht in den sittsamen Maigrets, über die sich das englische Episkopat allenfalls wegen des übermäßigen Alkoholgenusses des Kommissars beschwerte. Unter dem nicht gerade schwer aufzulösenden Pseudonym Georges Sim veröffentlichte Simenon einige seiner softpornographischen Romane, dann aber auch als La Déshabilleuse, Gom Gut oder Plick et Plock. Auf rund 400 Bücher brachte er es insgesamt, darunter gut achtzig Maigrets.
 






 

Samstag, 15. Dezember 2018

Französische Konzentrationslager: Schlamperei bis zur Grausamkeit


Die Ziegelei von Les Milles bei Aix-en-Provence war Internierungslager für bis zu dreitausend Häftlinge
 
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, wurden zehntausende deutschsprachiger Flüchtlinge und Geschäftsleute - in Paris sogut wie in Südfrankreich - in Lagern, oft alten Fabriken, wie in Les Milles bei Aix-en-Provence, oder Stadien, wie in Paris und Antibes, interniert. Aus zunächst nur verdächtigen Individuen waren „feindliche Subjekte“ geworden. Ganz Frankreich hatte Angst vor der Unterwanderung durch Hitlers Agenten – und neben ein paar Nationalsozialisten waren es vor allem diejenigen, die vor Hitler geflohen waren, die nun eingesperrt wurden.

Diese französischen Konzentrationslager waren aber nun in keinster Weise mit den nationalsozialistischen Vernichtungslagern zu vergleichen, obschon auch hier viele Insassen zu Tode kamen; in den meisten Fällen aufgrund schlechter hygienischer Verhältnisse und fehlender ärztlicher Versorgung sowie aufgrund der mangelnden Verpflegung.


Hofgang und Mittagessen in Les Milles      Bild Camp des Milles
Selbst auch in den Autobiographien, Erinnerungen und Briefen der Lagerinsassen spielen skurrile Begebenheiten immer wieder eine Rolle. Vor allem Lion Feuchtwanger hat in seinem Buch „Der Teufel in Frankreich" viele solcher Geschichten aufgezeichnet.

"Kondensmilch, in keinem Restaurant mehr aufzutreiben, war im Lager von Saint Nicolas zu haben oder gebackenes Huhn mit Gurkensalat ab mittags um zwölf neben Zelt 54, neue Füllfederhalter, Schweizer Zeitungen und sogar ein ausgezeichnet nachgemachter polnischer Paß, geeignet für Herren zwischen vierzig und fünfzig, für nur 3000 Franken“.
Die französischen Wachoffiziere hatten es sich abgewöhnt, zum Essen in eines der umliegenden Restaurants zu fahren. Im Lager gab es alles preiswerter, reichlicher und vor allem von deutschen und österreichischen Köchen in ihren improvisierten Küchen einmal ganz anders zubereitet.

Die Kontrollen, gerade in Saint Nicolas, waren meist ausgesprochen oberflächlich. Ausflüge waren zwar nicht genehmigt aber möglich, Besuch durfte empfangen werden, sogar Damenbesuch. Ohne weiteres konnte man sich aus dem Lager entfernen, mal nachmittags zum Schwimmen an den Gard gehen oder sogar einen oder zwei Tage in Nîmes verbringen. „Jeden Tag“ so schrieb der Walter Meckauer in sein Tagebuch, „nahm der Sergeant auch einige Tagesurlauber in die Stadt mit, vorausgesetzt, daß wir ihm die üblichen sieben Francs zahlten“. Und Feuchtwanger nahm den Faden auf: „Hatte man die Stadt einmal erreicht, dann konnte man sich leicht verlieren in der ungeheuren Menge der Flüchtlinge, die von Norden kam. Viele von uns stiegen denn auch hinunter in die Stadt, aßen in einem der guten Restaurants, schliefen in einem guten Bett, gönnten sich ein gutes warmes Bad. Am anderen Morgen dann fuhren sie sehr früh in einer Autodroschke zurück, ließen in der Nähe des Lagers halten, krochen unter dem Stacheldraht her, schlichen sich in ihr Zelt und waren zum Morgenkaffee brav wieder da."

Das Lager, schrieb Feuchtwanger, sei

„ein einziger großer Rummelplatz. Cafés, Verkaufsbuden, eine neben der anderen, säumten die Straßen der Zeltstadt. Hausierer zogen durch diese Straßen von fünf Uhr morgens bis ein Uhr nachts und schrien ihre Waren aus.“
Einige Kilometer vom Lager entfernt, in Collias „in der Nähe einer angenehmen Badestelle fand sich ein ländliches Restaurant von bester französischer Tradition“. Wenn man sich einen Tag zuvor den Tisch reservierte, konnte man sicher sein, „ein mit Sorgfalt und Geschmack zusammengestelltes Mahl zu erhalten“. Zum Beispiel

„vielerlei Hors d‘Oeuvre, dann ein ausgezeichnetes Fischgericht, dazu einen leichten Elsässer, dann gab es Perlhuhn mit Salat und Kartoffeln, dazu einen anständigen Burgunder, dann eine Süßspeise, dazu einen schweren, algerischen Wein, dann vielerlei Obst und eine wohl assortierte Käseplatte, dann Kaffee und alten Kognak“.

Wandmalerei im Lager: Freiheit, Leben, Friede                  Bild Camp des Milles
Feuchtwanger verarbeitete diese Zeit in seinem Buch „Der Teufel in Frankreich“. Zunächst hatte er „Unholdes Frankreich“ als Titel vorgesehen, den er dann in Anspielung an das Sprichwort vom „Leben wie Gott in Frankreich“ und den Bestseller von Friedrich Sieburg „Gott in Frankreich?“ dann änderte.

André Fontaine, einem Deutschlehrer aus Aix-en-Provence, kommt der Verdienst zu, die Geschichte eines der bekanntesten Lager, des Lagers von Les Milles, über mehr als zehn Jahre hinweg gründlichst und weltweit in Archiven recherchiert zu haben. Fontaine besitzt inzwischen eine umfangreiche Samlung von Briefen, Bildern, Fotos, hat die Gespräche mit den damaligen Gefangenen und ihren Bewachern 
Im Speisesaal von Les Milles: Immer Hunger
dokumentiert. Vor allem ist es ihm und dem späteren ersten Direktor der Gedenkstätte, Alain Chouraqui, zu verdanken, daß die von den Gefangenen gemalten Wandbilder im Lager nicht zerstört worden sind.

Lange hat Fontaine gebraucht, um einen Verleger zu finden. Erst mit Unterstützung von Alfred Grosser, der auch ein Vorwort beisteuerte, ist ihm dies gelungen: „Wir lieben es in Frankreich nicht, zuviel


über die negativen Aspekte unserer nationalen Vergangenheit zu wissen. Selbst unsere Geschichtsbücher sind sehr diskret, die Forschung vermeidet diese dunklen Momente, wenn es nicht möglich ist, dafür entweder eine Person oder eine Minorität zu finden, die man als Sündenbock benutzen kann.“

Golo Mann, Sohn von Thomas Mann, der gemeinsam mit Max Ernst und Lion Feuchtwanger, um hier nur zwei zu nennenn, in Les Milles eingesperrt war, hat in seinem Tagebuch die Zeit im Lager zusammen gefaßt: „Erfahrene sagen, daß es schlimmer sei als Dachau; das ist natürlich Unsinn. Wahr scheint mir nur dies: Die Deutschen organisieren die Grausamkeit sauber und genau; die Franzosen können, ohne viel darüber nachzudenken, Schlamperei und Unfähigkeit bis zum Grausamen treiben.“
 

Samstag, 8. Dezember 2018

Ein nur zur Hälfte geglückter Doppelselbstmord

Die Freundin überlebte
Der Schweizer Lyriker Alexander Xaver Gwerder mochte vieles nicht und vieles sehr. Das läßt man ihn am besten selbst aufzählen: «Ich hasse die Kulturschnorrer, die Richtungsrichter, das Militär inklusive Patrioten und Kunststückler – zu lieben bleiben noch: Frauen, Gifte und ihre Erscheinungen, wie Kinder oder Bücher; Pflanzen mit ihrem Anhang dar - unter vornehmlich die Wolken.»

Auf den Spuren des von ihm hochverehrten Vincent van Gogh reiste der knapp dreißigjährige Gwerder 1952 nach Arles, um sich gemeinsam mit seiner neunzehnjährigen Freundin Salomé Dürrenberger umzubringen. Sie überlebte, er wurde zwar noch vom Hotel ins Armenkrankenhaus von Arles eingeliefert, starb aber dort. In seinen Tod ist zunächst viel hineininterpretiert worden. Erst in der 1980er Jahren hat Salomé Dürrenberger die recht simplen Hintergründe geschildert: Gwerders Frau, sie hatten zwei Kinder zusammen, hatte in die Scheidung nicht eingewilligt.
Die Alyscamps in Arles: Der richtige Ort, um Gwerders Gedichte zu lesen.

Etwas bekannter wurde er erst nach seinem Tod, allerdings paßten die Endzeitstimmungen seiner Gedichte nicht gut in das Sonnenland seines Malervorbildes. «Im Gedicht bin ich mir selber am nächsten», hat er in sein Tagebuch notiert.

 

 

Samstag, 1. Dezember 2018

Moritz Hartmann, Sabatier und La Tour de Farge

Der Journalist, Republikaner und in Deutschland steckbrieflich gesuchter Mitstreiter der badischen Revolution, fand in Frankreich ausgerechnet Zuflucht auf einem Schloß, Latour de Farge, das der Familie des adeligen Schriftstellers und Malers François Sabatier d'Espeyran gehörte.

Zum großen Künstlerfreundeskreis von Sabatier gehörte unter anderem der Maler Gustave Courbet, der das Schloß von Norden her durch die Weinberge gesehen malte; viele seiner Bilder finden Sie im Museum Fabre in Montpellier. Von Latour aus also schrieb Hartmann, ähnlich wie Daudet aus seiner Mühle, Briefe aus seinem Schloß, die dann etwa in der Hannoverschen Presse oder der Zeitschrift „Das Museum“ veröffentlicht wurden.


Nach den Beschreibungen Hartmanns werden Sie das Schloß noch heute finden - wenn nicht folgen Sie den Hinweisen auf der HOMEPAGE.
„Wie ein Posten von der ungeheueren Festungsmauer des Cevennengebirges blickt es klug und mutig weit hinaus über die Ebene Niederlanguedocs bis ans Meer. Hundert Schritt gegen Süden und man befindet sich an der Eisenbahn und in der Ebene. Gegen Osten blickt man auf die weingesegneten Ebenen von Lunel.“
Als kleine Hilfe noch - obwohl, eher ist es schon eine große - der Hinweis, daß Sie nur nach dem einzigen Hügelchen in der Petite Camargue Ausschau halten

Tour de Farges, wie die Doamine heute heißt                     Bild: Domaine
müssen, und daß Sie es heute unter La Tour de Farge finden und nicht mehr unter Latour. Und ganz grundlos müssen Sie auch nicht herfahren, schließlich wird heute auf der Domaine ein ebenso

Ein trockener Muscat petit grains wird hier neben dem Vin doux produziert. Bild: Domaine
hochdekorierter wie hochprozentiger Muskatwein produziert, noch handgelesen die Trauben und bei niedrigen Temperaturen fermentiert.

Vom Schloß selbst sind nur noch zwei Türme übrig geblieben, von denen einer schon zu Hartmanns Zeit zum Taubenturm umfunktioniert war. Das rettete ihn davor, während der Französischen Revolution dem Erdboden gleichgemacht zu werden.
Speisesaal               Bild OT Lunel


Der dritte Turm stammt vom Beginn des 19. Jahrhunderts und gehörte zur Telegraphenlinie des Erfinders Claude Chappe. Der hatte sich ein optisches System ausgedacht, ähnlich der Flaggentelegrafie auf See. Alle zehn bis elf Kilometer stand einer seiner Türme mit beweglichen Holz- oder Metallarmen, mit denen man Buchstaben, Worte oder kurze Sätze zum nächsten Turm übertrug. Ein System, von dem vor allem Napoleon profitierte, weil es weit schneller und sicherer war, als die früher ausgesandten Kuriere. Auf eine Geschwindigkeit von bis zu 135 Kilometern in der Minute konnte es ein Zeichen bringen, wenn die Wachmannschaften geübt waren.

In der Schloßbibliothek fand Hartmann eine Ode über die Landschaft des Languedoc, die der Kamisardenanführer Pierre Laporte, genannt Rolland, im Jahre 1703 seinem General Jean Cavalier zur Hochzeit widmete. Cavalier, erst Schäferjunge und dann Bäckergeselle hatte

Die Landschaft des Languedoc vom zerfallenen Schloß Vézénobres aus gesehen. Ganz in der Nähe 
bei Martignargues, hat eine große Schlacht  zwischen Kamisarden und Königstruppen stattgefunden.
 
sich in den Kämpfen durch besondere Verwegenheit hervorgetan, aber auch seinen Kamisarden ein strategisches Verhalten beigebracht, das sie gegen die gut ausgebildeten Königstruppen lange widerstehen ließen. 
„Du findest dort die Milde des Himmels,
die Fruchtbarkeit des Bodens,
die Mannigfaltigkeit der Felder,
des Weingartens, der Wiese,
die Verschiedenheit der Früchte,
die Annehmlichkeiten des Hügels und der Ebene.“ 
 
Wenig später wurde Moritz Hartmann dann auch in Frankreich als „verdächtiges Individuum“ angesehen und für kurze Zeit sogar im Staatsgefängnis Mazas interniert.

Samstag, 6. Oktober 2018

Pont du Gard: Das Wasser fließt bergauf

Domnine Reynert erklärt die dicken Kalkablagerungen
in der abgedeckten Wasserrinne oben auf dem Pont du Gard 
Die Leistungen der römischen Bauingenieure sind beeindruckend: Über fünfzig Kilometer wird das Wasser der Eure von der Quelle bei Uzès bis Nîmes geleitet. Nur gut zwölf Meter beträgt insgesamt das Gefälle, wie Domnine Reynert erklärt, die Pressechefin der Site du Pont du Gard. Fünf Meter weniger, als immer noch in den meisten Reiseführern zu lesen ist. Einige Eindrücke vom Pont du Gard und ein Gespräch mit Zweisternekoch** Jérôme Nutile HIER im VIDEO (etwa ab Minute 20).

An manchen Stellen gelang es den Römern, durch eine Verengung des Kanals das Wasser so zu beschleunigen, daß es bergauf floß. Mit Domnine den Weg durch den Wasserkanal der obersten Arkadenreihe zu machen, ist ein Erlebnis. Von Louis Benoit erzählt sie, einem Schlosser, der den Pont du Gard 1611 bestieg und seine Handwerkermarke, einen Schlüssel, in den Stein einritzte.

Seither haben alle Handwerker, die im weitesten Sinne dem Bausektor zugerechnet werden, vom Zimmermann über den Steinmetz natürlich bis hin zu den Schlossern das Recht, sich hier zu verewigen. Nur allerdings, solange sie sich auf ihrer einjährigen Wanderschaft, ihrer „Tour de France“ befinden.Wen der seltene Vorname von Domnine Reynert an etwas erinnert: Sie stammt aus Sisteron und ja, ihre Eltern haben Sie nach der Romanfigur von Paul Arène getauft.

Lange hielt sich die Legende, die Olivenbäume
am Pont du Gard seien während des Baus gepflanzt worden.
Tatsächlich sind sie ein paar hundert Jahre alt,
kommen aus Spanien und stehen seit gut 60 Jahren hier.
Und auch andere Legenden um den Pont du Gard rückt sie zurecht. Die drei alten Olivenbäume auf dem linken Ufer - kaum jemand kann daran vorbeigehen ohne Frau, Kind, Hund oder wen auch immer darunter zu fotografieren - stammen nicht aus der Zeit um Christi Geburt, wie immer wieder zu lesen ist. Es sind nicht einmal französische Bäume, sondern rund tausendjährige Olivenbäume aus Andalusien, die nach dem großen Frost von 1956 hierher verpflanzt wurden.
Und auch die Geschichte, daß die Römer den Pont du Gard in einem leichten Bogen gebaut hätten, um so ein Gegengewicht gegen den Mistral zu berücksichtigen, ist eine Mär. Tatsächlich haben sie ihn kerzengerade über den Fluß gezogen. Die inzwischen sichtbare Wölbung ist den Sonnenstrahlen zuzuschreiben. Täglich 5 Zentimeter gegen die Steine auseinander, um sich nachts 4,999 Zentimeter wieder zusammen zu ziehen. So entsteht eine jährliche Lücke von 2 Millimetern auf der Sonnenseite, die sich im Laufe von zweitausend Jahren zu einer insbesondere im Wasserkanal deutlich erkennbaren Kurve entwickelt hat.

Obwohl die Bauarbeiten an unterschiedlichen Stellen gleichzeitg begannen, stimmten überall die Anschlüsse. Sogar bergauf ließen die römischen Ingenieure das Wasser fließen, in dem sie die den Kanal enger machten und so die Fließgeschwindigkeit erhöhten. Mehr als tausend Arbeiter waren beschäftigt, über fünfzigtausend Tonnen Stein wurden verbaut. In Nîmes endet der Kanal im Castellum divisorium,


Leicht zu finden: Vom Office de Tourisme gerade mal ein paar Meter den Berg hoch
einem Verteilbecken, aus dem heraus das Wasser durch Bleirohre in die einzelnen Stadtteile geleitet wurde. Mehr darüber HIER AUF DER HOMEPAGE VON NIMES .So jedenfalls konnte die Großstadt Nîmes jahrhundertelang mit täglich zwanzigtausend Kubikmetern frischen Quellwassers versorgt werden: Also rund vierhundert Liter je Einwohner.
Von dieser Seite noch stabil aussehend, aber die andere...siehe Film unten
Vor lauter Pont du Gard wird aber die kurz vor dem Zerfall stehende Römerbrücke an den Stadtgrenzen von Uzes und Blauzac vergessen. Anderswo wäre man froh ein solches Kleinod touristisch vermarkten zu können. Hier aber ist die verantwortliche Stadtverwaltung von Uzes offenbar froh, wenn die Brücke bei den Überschwemmungen der nächsten Jahre endgültig zerstört wird. Jacques Roux hat das im April 2015 in einem Artikel für den "Midi libre" aufgegriffen. Hier EIN FILMISCHER EINDRUCK von dem, was da im wahrsten Sinne des Wortes den Bach runtergeht. Les Seynes heißt das im Sommer harmlose Bächelchen, das sich aber mit den Regen des Spätherbstes in einen bis zu einhundert Meter breiten Strom entwickelt.


 

Samstag, 8. September 2018

Tarascon, Tartarin und die Hasenjagd und das Nr.1-Restaurant in Beaucaire

"Der Flinke" - dreidimensional
(siehe die Schatten der Ohren) in Tartarins Haus
An einem Sonntag muß Gustave Flaubert Tarascon besucht haben und fand keine Menschenseele vor; sie „gleicht einer Stadt, deren sämtliche Einwohner ausgewandert sind.“ Kein Wunder, denn Sonntag für Sonntag, so beschreibt das Alphonse Daudet in seinem "Tartarin", sonntags greife ganz Tarascon zu den Waffen, „verläßt, den Rucksack auf dem Rücken, die Stadt und begibt sich, das Gewehr auf den Schultern, mit kläffender Meute, Frettchen, Trompeten und Jagdhörnern ins Gelände. Das ist ein herrlicher Anblick - leider fehlt das Wild, es fehlt vollständig.“

Der letzte verbliebene Hase wurde mit dem Beinamen „Der Flinke“ geadelt und unter Naturschutz gestellt. Und dann, was machen diese Heerscharen von Jägern? „Lieber Gott, sie ziehen zwei oder drei Meilen aufs Land hinaus, bilden kleine Gruppen zu fünft oder sechst und strecken sich friedlich im Schatten eines Brunnens, einer alten Mauer oder eines Olivenbaums aus, ziehen aus ihren Jagdtaschen ein schönes Stück geschmortes Rindfleisch, rohe Zwiebeln, Würstchen und eine Büchse Anchovis hervor und beginnen endlos zu frühstücken. Dieses Frühstück begießen sie dann mit einem süffigen Rhônewein, der zum Lachen und Singen anregt.“

Tartarin, in afrikanischer Ausrüstung, auf Hasenjagd vor Tarascon. Postkarte von ca 1930.

Wenn dann dem Wein die Ehre getan ist, begibt man sich auf die Jagd. Und für Daudet und Tartarin heißt das: „Jeder der Herren packt seine Mütze, schleudert sie mit aller Kraft in die Luft und schießt nach ihr mit Fünfer-, Sechser- oder Zweierschrot. Wer die meisten Treffer in seiner Mütze erzielt, wird zum Jagdkönig ausgerufen und kehrt am Abend, die durchlöcherte Mütze auf dem Gewehr, im Triumph mit Hundegebell und Fanfarengeschmetter nach Tarascon zurück.“ Bei allem Schwindel hat der Schwindel aber seine Grenzen: „Es gibt sogar Hutmacher, die den Ungeschickten die Mützen schon durchschossen und zerfetzt verkaufen, aber man weiß nur vom Apotheker, daß er so etwas kauft. Das gilt als unehrenhaft.“

Wenn Sie jetzt drei Stunden, eine Minute und 56 Sekunden Zeit haben: HIER können Sie den kompletten Text hören.

Henry James besuchte Tarascon für gerade mal drei Stunden und „in erster Linie aus Liebe zu Alphonse Daudet“, der gerade eine Neuauflage seines Tartarin auf den Weg gebracht hatte. Ansonsten war er von der Stadt enttäuscht.

 
Sicher, da sei das Schloß, aber besonders auffallend sei eigentlich nur die „lebhafte Schläfrigkeit“ des Ortes, eine andauernde Sieste, bei der sich ein Septembernachmittag bis in den Oktober hinziehe.

Hauseingang von Tartarin
Am Maison de Tartarin fährt man leicht vorbei, weil es völlig untartaringemäß, da unauffällig, am Boulevard Itam liegt. Einzelne Räume, zum Beispiel das Kaminzimmer mit den vergifteten Pfeilen und der Garten, wurden entsprechend den Schilderungen Daudets angelegt.

Der Garten geht allerdings hinaus auf eine Umgebung, wo selbst hochgewachsene Palmen die schon von Wolfgang Koeppen beklagten Betonhäuser nicht verstecken. „Kalt, nüchtern, häßlich und unsagbar trostlos“ fand er Tarascon und befindet sich damit im Widerspruch zu Joseph Roth: „Eine helle, kleine, freundliche, gutmütige, ein bißchen kümmerliche Stadt, ein bißchen komische Stadt. Ihre angesehenen Bürger träumen noch heute von Löwenjagden.“


Zu Mittagessen einmal über die Brücke:
Nach Beaucaire zu Cécile
Wer auf den Spuren von Tartarin hungrig geworden ist, der fährt über die Brücke nach Beaucaire und geht zu "Cécile", deren Restaurant und Lebensmittelgeschäft an einem stillen Platz mit hohen Platanen gleich an der Stadtmauer (Place de la République) liegt.
Fast keine Auswahl, aber ein täglich frisches Menue und ordentlichen Wein zu einem Preis, der unterhalb dessen liegt, was Sie für ein Picknick ausgeben werden. Völlig unscheinbar, aber völlig zu recht von den Trip-Advisor-Bewertern als Nr.1  von sechsunddreißig Restaurants in Beaucaire eingestuft.

Samstag, 1. September 2018

Nîmes: Der Märchendichter und seine "dänische Provence"



Hans Christian Andersen im Jahr 1869.
Foto von Thora Hallager
Ähnlich wie der Pont du Gard wird auch Nîmes von fast all seinen schreibenden Besuchern enthusiastisch gesehen. So auch vom dänischen Märchendichter Hans Christian Andersen (1805-1875):

„Durch die Provence, die mir ganz dänisch aussah, erreichte ich Nîmes, wo die Größe des prächtigen römischen Theaters mich auf einmal nach Italien zurückversetzte. Das sogenannte Viereckige Haus steht noch in seiner ganzen Pracht, wie der Theseustempel bei Athen; Rom hat nichts so Wohlerhaltenes.“ 
 Der römische Süden brachte Andersen wenigstens zeitweise auf andere Gedanken. Ständig waren seine Ängste gegenwärtig, echte wie vermeintliche, die vor Hunden, vor dem Feuer und vor allem die, lebendig begraben zu werden. Das neun Meter lange Seil, das er in Hotelzimmern vorsorglich ans Fenster legte, kann im Museum in Kopenhagen besichtigt werden. „Ich bin nur scheintot“, soll er nicht nur auf Reisen immer einen Zettel auf den Nachttisch gelegt haben.



Eines hatte der Mann, den die meisten von uns nur als Märchendichter kennen, mit Thomas Mann gemein: Die ausdauernde Unbarmherzigkeit, mit der er Tagebuch führte und jede Alltäglichkeit für notierenswert hielt, was nicht so schlimm gewesen wäre, aber auch für veröffentlichungswert hielt. Obwohl es dazu natürlich auch eines Verlegers bedurfte. Mit der gleichen Hartnäckigkeit, mit der Mann das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Stechmücken notierte, schrieb Andersen mit bereits siebenundzwanzig Jahren eine erste Autobiographie, in der er seine ganzen eingebildeten Krankheiten und Unpäßlichkeiten auflistete.

Wenn man sich selbst nur ausreichend wichtig nähme, dann sei man auf dem Weg ein Kunstwerk zu werden, hatte Thomas Mann notiert. Diese These hätte Andersen blind unterschrieben.

 

Sonntag, 19. August 2018

Magali Nieradka: Exil unter Palmen


Das sind schon gute Voraussetzungen für dieses Buch: Nicht nur der provenzalische Vorname Magali, sondern vor allem die Tatsache, daß die Autorin jahrelang an der Côte d’Azur lebte und forschte und daß sie dort Gelegenheit fand, etwa mit dem Neffen Lion Feuchtwangers zu sprechen oder mit Camille Bondy, die mit ihrem Mann Walter fotografierend und malend zu den wichtigsten Zeugen der Geschichte der deutschen Literatur in Sanary-sur-Mer gehörte. Ludwig Marcuse machte aus dem unbedeutenden und daher für viele der Exilanten noch bezahlbaren Ort auch gleich die „Hauptstadt der deutschen Literatur. Nicht ganz zu Unrecht, wenn man sich die Liste der Autoren und Maler auf der Gedenkplakette am Hafen ansieht.

Uferpromenade in den 1930er Jahren und die erweiterte Gedenktafel von 2011

Wenn man das Buch, ohne die Autorin zu kennen, in die Hand nimmt, könnten einem schon Bedenken kommen: Eine Verfasserin aus dem akademischen Lehrbetrieb, ein umfangreiches Register, eine

Auswahlbibliographie mit Primär- und Sekundärliteratur sowie knapp 150 Fußnoten…und trotzdem kann man es einfach so und mit Freude lesen. Bei aller inhaltlichen Substanz ein Buch, das Ihnen im Sommerurlaub an der Côte oder in der Provence so gefallen wird, daß Sie nun plötzlich nicht anders können als nach Sanary zu fahren, um dort den Spuren der Maler und Schriftsteller zu folgen, die sich vor allem in den 1930er Jahren hier aufgehalten haben.

Wer konnte, der floh, vor allem in die Vereinigten Staaten, viele mit Hilfe des Teams von Varian Fry, der rund zweitausend Menschen vor der Inhaftierung durch die französische Polizei oder die Gestapo bewahrte. Vor allem in Los Angeles haben sich „die üblichen Verdächtigen“ – von Lion Feuchtwanger über die Manns bis zu Bert Brecht – dann wieder getroffen. Für Feuchtwanger Anlaß genug, dort ein „gigantisches Sanary“ zu sehen.

Wenig bekannt aus Sanary ist die Geschichte des deutschen Soldaten Oswald Hartmann. Obwohl Sanary durch die Nähe zu Toulon in dem von den deutschen Besatzungstruppen erwarteten Landungsgebiet der Alliierten lag, blieb die Stadt weitgehend unzerstört. Zu verdanken hatte sie das Oswald Hartmann, einem Leutnant der Wehrmacht, der im Januar 1944 von der russischen Front ans Mittelmeer verlegt wurde. Hier organisierte er die Verminung von Hafen und Altstadt. Als die Sprengung angeordnet wurde, hat er dann die Verbindung zwischen dem Sprengzünder und den Minen durchtrennt. Hartmann blieb sogar nach dem Krieg in Sanary und half als Leiter eines zivilen Räumkommandos über zwei Jahre hinweg den engen Teppich von über 90.000 Minen wieder zu entfernen.


Nieradka-Steiner mit ihren
Kollegen Azuélos und Wallace im
Galli Theater in Sanary
Das erinnert an einen anderen Befehlsverweigerer, Dietrich von Choltitz, der als Stadtkommandant von Paris die Zerstörung vereitelte. "Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen", so lautete der letzte Satz des Führerbefehls vom 23. August 1944, exakt dem Tag der Befreiung Sanarys. Die dreihundert deutschen Soldaten, die sich an diesem Tag noch in der Stadt befanden, ergaben sich. Dreißig Jahre später, da gab es längst eine Städtepartnerschaft mit Bad Säckingen wurde Hartmann „als erster Mann der Versöhnung“, wie Bürgermeister Bernhard es formulierte, mit der Ehrenmedaille der Stadt geehrt.

Magali Nieradka-Steiner: Exil unter Palmen. Theiss/WBG, Darmstadt 2018.

 

Samstag, 4. August 2018

Sète: Hai-Angriff im Hafen

Delphine und Haie waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Mittelmeer so zahlreich, daß sie sogar in den größeren Häfen, zum Beispiel in Sète, zu beobachten waren. Johanna Schopenhauer (1766-1838) - die Goethe-Vertraute

Blick vom Friedhof (mit dem Grab von Paul Valéry) auf den Hafen von Séte. Johanna und Adele Schopenhauer auf einem Gemälde von Caroline Bardua
und Mutter des Philosophen Arthur - war während Ihrer Reise durch Südfrankreich sogar von einem Haiangriff erzählt worden.

„Vor mehreren Jahren badete ein englischer Matrose in dem stillen, klaren Wasser, da gewahrten seine Kameraden wie ein großer Hai dicht unter ihm dahergeschwommen kam. Sie warfen ihm ein Seil zu. Schon war der Unglückliche über das Wasser gehoben, da sprang das Ungeheuer hoch aus der Flut, schnappte nach ihm und die Rettung des Lebens war mit dem Verlust eines Beines erkauft.“
Das Mittelmeer gehört auch heute noch zu den allerdings seltenen Jagdrevieren des Weißen Hai, wie sich auf den Karten von „Shark Protect“ ersehen läßt. Zwischen dem Besuch Johanna Schopenhauers im Jahr 1804 und heute hat es
„siebenunddreißig verbriefte Weißhai-Angriffe auf Menschen gegeben, wovon siebzehn tödlich endeten“.
Der letzte dokumentierte Angriff stammt aus dem Jahr 1984.


Weiße Haie: Kaum einmal im Mittemeer  Bild: B. Inalglory, WikiComm
Heute werden noch knapp fünfzig Haiarten im Mittelmeer gezählt, davon rund ein Drittel mit Längen über drei Meter und so auch für Badende gefährlich. Da mag man die statistische Wahrscheinlichkeit als sehr gering errechnen. Aber fragen Sie doch mal den englischen Matrosen.

Samstag, 28. Juli 2018

Grignan: Marquise de Sévigné

Geistreiche Briefeschreiberin des 17. Jahrhundert
Jeder hat so seinen Punkt auf der Fahrt in den Süden, an dem er sagt, jetzt sei er „da“. Für mich ist es das Hinweisschild zum Château Grignan, auf dem die Schreibfeder der Marquise de Sévigné auf deren mehrere hundert überlieferte Briefe verweist. Wer diese Briefe liest, befindet sich mitten in einer Aphorismensammlung. „Tout ce que j’aimerais faire est illégal, immoral ou fait grossir“ schrieb sie am 18. April 1696. Überlegen Sie einmal, von wem alles sie dieses geflügelte Wort, schon wie gerade aus einem guten Gedanken entwickelt, gehört oder gelesen haben:

„Alles worauf ich Lust habe ist nicht erlaubt, unmoralisch oder macht dick.“
Fast niemand mehr bringt es mit der Urheberin in Verbindung. Die ganze Geschichte des Château Grignan und der übrigen Schlösser der Drôme finden Sie HIER.

Grignan: Nahtloser Übergang Schloß, Dorf, Friedhof

 
Eindrucksvoll, aber alles andere als historisch korrekt ist das Schloß im 19. Jahrhundert renoviert worden und inzwischen auch mit einer „Reliquie“ der Madame de Sévigné versehen. Zwei Knöchelchen aus der Hand mit der sie all die Briefe schrieb? Der Schloßführer spricht das Fragezeichen so wenig fragend, daß man seine Geschichte fast glauben muß.

Marie de Rabutin-Chantal, wie die Marquise de Sévigné ursprünglich hieß, schrieb diese Briefe - die den Geist des 17. Jahrhunderts authentisch und geistvoll spiegeln - meist aus Paris, der Normandie oder Burgund an ihre Tochter Françoise-Marguerite.


Gerade 19 Jahre alt geworden, hatte diese den Comte de Grignan geheiratet. Die Mutter kam oft nach Südfrankreich zu Besuch, vor allem nach dem Tode ihres Mannes, der, "glücklicherweise" wie sie sagte, in einem Duell getötet worden war; er hatte sich aber nicht für seine Frau, sondern für eine seiner vielen Geliebten duelliert. So konnte er nicht auch noch den Rest ihres Vermögens durchbringen. Zu ihren Briefpartnern gehörten die Berühmtheiten der Zeit, die ihr Urteil schätzten.

Nur einmal hat sich wirklich getäuscht, als sie dem jungen Racine, der gerade anfing berühmt zu werden keine Zukunft gab: Voltaire erinnert sich an einen Ausspruch der Marquise von Sévigné:
„Racine passera comme le café.“
Racine blieb und die von ihr kritisierte Unsitte des Kaffeetrinkens auch.

In Grignan gibt es noch ein kleines, privates Atelier-Musée du Livre et de la Typographie, eine Werkstatt, in der sich Philippe Devoghel ganz zuhause fühlt. Sein Name klingt seltsam im Midi. Ursprünglich stammt Devoghel aus Dünkirchen, lange hat er in Paris gearbeitet. Ob Schulklassen, Künstler oder Drucker – jedem kann er auf seinen alten Linotype-Maschinen die Feinheiten des Bleisatzes beibringen oder aber auch Gravuren oder Holz- und Linolschnitte. Ein Besuch, der sich lohnt. Sie finden es auf dem Platz Saint Louis, rufen aber wegen der Öffnungszeiten sicherheitshalber an (0033 475 465716).

Samstag, 21. Juli 2018

Ruth Landshoff-Yorck: Sie war ihr eigenes analoges Facebook

Heutzutage hätte Ruth Landshoff eine mindestens sechsstellige Zahl von Followern bei Youtube, Instagram, Twitter oder wo auch immer und hätte sich längst Entschleunigungs- oder Konzentrations-Apps installiert, um wenigstens eine halbe Stunde am Tag vor sich selbst etwas Ruhe zu haben. Die Bilder von ihr auf den roten Teppichen fände man nicht nur im Netz, sondern auch in Gala, Bunte und den zahlreichen kaum unterscheidbaren gelben Frauen-Zeitschriften. Als „Society-Girl im Berlin der Roaring Twenties“ (Süddeutsche Zeitung) oder „als eine Art androgynes IT-Girl, das die Jet-Set-Zentren Europas ansteuerte“ (Deutschlandfunk) wird sie charakterisiert.

Kein Wunder bei einer Frau, die von Kokoschka „wild und wach“ portraitiert wurde, Marlene Dietrich angeblich zur Filmrolle im „Blauen Engel“ verhalf, mit Thomas Mann Krocket spielte, mit Dali befreundet war und den Filmregisseur Murnau immerhin küsste - mehr war bei dessen Vorliebe für Naturburschen nicht drin. Als sie die Tagebücher ihres männlichen Pendants als Prominenten-Sammlerin, Harry Graf Kessler, liest, kommentiert sie:

"Von den im Index aufgeführten Personen kannte ich 315.“
Nur die von Kessler veranstalteten Einladungen fand sie langweilig:
"Vielleicht hätte der Graf Kessler einmal Hindenburg mit Josephine Baker einladen sollen."



Über und von Ruth Landshoff-Yorck

Wenn Landshoff schreibt, sogut wie wenn man über sie schreibt, ist exzessives Name-Dropping angesagt. Für Sartre organisierte sie eine Party und Cocteau schenkte sie ihr Feuerzeug. Nichts tut sie hingegen für André Gide, der ihr, während er einen "vergnügten jungen Clown" auf den Knien schaukelt, nur eine "harte flache Hand" zum Gruß reicht.

"Wenn Sie wüßten, Monsieur Gide, was ich über Sie weiß", schreibt sie in ihren Memoiren, "würden Sie mir nicht Ihr würdiges, respektheischendes Gesicht hinhalten, sondern eher ein verlegenes."
Gide soll einem ihrer Freunde Liebesbriefe geschrieben haben. Heute wäre das niemandem eine Zeile wert. Damals schon, denn der große Moralist Gide suchte seine Homosexualität lange zu verheimlichen.

Auch heute noch viel Erfolg mit der Google-Bildsuche
 Ruth Landshoff kam 1904 in Berlin zur Welt und starb 1966 in New York. Sie war die Nichte des Verlegers Samuel Fischer, der einiges für ihre ersten Karriereschritte tat. Und der Kiepenheuer-Lektor und späteren Exil-Verlegers Fritz Landshoff war ihr Cousin, den sie dann nicht mehr brauchte. Jedenfalls konnte es fast nicht ausbleiben, daß sie anfing zu schreiben. Ihr erstes Buch „Die Vielen und der Eine“, die Geschichte einer deutschen Reporterin in New York, wurde vom in Berlin neugegründeten Rowohlt-Verlag herausgegeben, in dem Franz Hessel als Lektor arbeitete. Dann unterschrieb sie einen Verlagsvertrag über sieben weitere Bücher, wobei für die „Schatzsucher von Venedig“ bereits der Vorabdruck in der „Berliner Illustrierten“ zugesichert war. Doch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erscheint keines ihrer Bücher mehr in Deutschland, bis, ja bis der Berliner Aviva Verlag sie verdienstvollerweise wiederentdeckte.

Als sie Paul Valéry zu einem Kompliment nötigen will, sagt der nur, daß sie immerhin wie eine Dichterin aussähe. Romane waren nie ihre Stärke, Feuilletons schon. Und so wechseln auch in „Sixty to Go“ die qualitätvollen sich mit den nachlässig formulierten Passagen ab. Die Schriftstellerin Annette Kolb, die 1933 über Paris in die USA emigrierte, hatte ein gutes Gespür, als sie in der Zeitschrift „Literarische Welt“ Landshoffs Erstlingsroman rezensierte:

„Sie hat eine große und liebenswürdige Eigenschaft, sie schreibt nicht langweilig. Aber hat einen weiten Weg und wird sich gehörig entsnoben müssen.“
Als Landshoff schon selbst in die USA geflüchtet war, begegnet sie Klaus Mann in Kalifornien und überläßt ihm ein Roman-Manuskript. Seinem Tagebuch vertraut er an:
„Nicht einmal ganz schlecht; aber recht verlogen, romantisch und überflüssig“.
Nun, Klaus Mann, der ja vor allem von den Dingen überzeugt war, die er selbst verfaßte. In den USA hatte Landshoff die Feuilletons abgelegt, war politischer geworden, arbeitete für die Voice of America und schrieb dort ihr Buch über eine Widerstandsgruppe an der französischen Riviera.




„Sixty to Go“ basiert – angeblich, sei wieder hinzugefügt, da immer wieder die Phantasie mit Landshoff durchgeht - auf einer Kurzgeschichte von Josef Than, dem Autor und Filmproduzenten; auch ob das so ist, weiß niemand außer ihr. Wie so oft, wenn die Autorin Fakten einbringt, etwa auf Seite 155 über das Lager Gurs, wird es ungenau bis falsch. An sich darf man das einem Roman nicht ankreiden, aber dann wieder doch, wenn er den Eindruck eines Tatsachenberichts bewirken will, mit Hilferding, Pagnol, Gabin und anderen, die auftauchen. Man merkt sehr schnell, dass die Autorin das entbehrungsreiche und gefährliche Exil im geteilten Frankreich allenfalls vom Hörensagen kennt. Und wenn sie ihre eigenen Côte d‘Azur-Erinnerungen einbringt, beschränken die sich auf das Umfeld der Luxushotels von Negresco bis Ruhl und einen Ausflug nach Cagnes-sur-Mer.




Irgendwie erzählt sie die Geschichte von Varian Fry, dem jungen Amerikaner, den eine Hilfsorganisation nach Marseille schickte, um exilierte europäische Intellektuelle vor den Nationalsozialisten zu retten. Er hätte in seinem Buch „Auslieferung auf Verlangen“ über seine „Mannschaft“ auch das schreiben können, was Landshoff im Roman schreibt: „Es war eine merkwürdig zusammengewürfelte Gruppe. Nichts als ein Krieg hätte sie so zusammen bringen können.“ Und irgendwie erzählt sie auch die Geschichte, die Lisa Fittko in ihrem Buch „Mein Weg über die Pyrenäen“ beschreibt. Fittko und Fry sollte man lesen, um Landshoff besser zu verstehen. Deren Salon-Resistanceler sind so weit vom echten Leben entfernt, wie die Autorin es auch meist war, eine Gruppe, die den Krieg als Abenteuerspielplatz nutzt, ohne auf den gewohnten Luxus zu verzichten.

Sixty to go - noch sechzig Flüchtlinge, dann hätten sie fünfhundert zusammen, die Gruppe von vier Männern und einer Frau unterschiedlicher Herkunft in Nizza, die alle vor den Nazis geflüchtet sind und im Jahr 1941 Menschen mit gefälschten Papieren über die Pyrenäen nach Spanien bringen: die Comtesse Maria de Roseraye, die alle nur Darling nennen; Johannes Tarner, ein österreichisch-französischer Schriftsteller; Sascha, ein polnischer Bergarbeiter; Gérard, ein Schauspieler aus Paris, und Franticek, ein tschechischer Pilot. 


Hotel Ruhl - heute längst abgerissen und immer wieder mit dem Charlton verwechselt.
Eine gute Hilfe beim Verständnis des Romans und vor allem seiner Autorin bieten die Bücher von Thomas Blubacher und Diana Mantel. Das Buch des Theaterwissenschaftlers und Regisseurs Blubacher hat 367 Seiten, auf Seite 265 beginnt der Anhang; da fürchtet man eine unlesbare Dissertation, die es dann aber doch nicht ist. Der Rechercheaufwand, verbunden mit vielen Reisen und Gesprächen ist bewundernswert. Manchmal wird der Autor allerdings exakter als es dem Leser nützt, wenn etwa der Einkommensteueranteil der jüdischen Bevölkerung Berlins (4,84 Prozent) mit 30,265 Prozent angegeben wird. Und etwas mehr historische Einordnung hätte dem Buch ebenfalls besser getan, als die ausführliche Dokumentation, wer wann in welchem Haus, in welchem Stock wohnte und wer vorher darin gewohnt habe, etwa auf Seite 181. Fast meint man, die Excel-Liste der Recherche-Ergebnisse sei dann unter unbedingter chronologischer Ordnung in den Text umgesetzt worden. Ziemlich grob übergeht Blubacher, ganz im Gegensatz zur Literaturwissenschaftlerin Diana Mantel Einzelheiten zur Quellenlage. Mantel, die in München bei Professor Annette Keck mit der hier angesprochenen Arbeit über Ruth Landshoff promoviert wurde verweist auf die Bestände des Howard Gotlieb Archival Research Center in Boston. Dort wird Landshoff unter dem Namen Ruth Yorck geführt.

Noch reichlich Material im Howard Gotlieb Archival Research Center

Viel gibt es dort noch zu entdecken und vielleicht auch noch zu veröffentlichen: Manuscripts by York include novels and novellas, poetry, articles and lectures, short stories, plays, essays, and other items. Novels and novellas appear in English and/or German. Titles include The Cinderella Murders; The Life of a Dancer / Leben Einer Tanzerin; The Gardenia Girl; Storm in Italy; So Cold the Night; Hinz; Die Nacht der Schlimmen Liebe; Patric Hoolihan; Young Man Beloved; an untitled novel in German; and an untitled novel in English. Also present are manuscripts for numerous poems, in English, German, and French; many articles written for various periodicals by Yorck; several short stories; essays; translations of other authors by Yorck, including pieces by David Davidson, Ben Hecht, and Niccolo Tucci. In addition, there is manuscript material related to plays adapted by Yorck, including The Infernal Machine, by Jean Cocteau; The Doorknob, by Jan Rys, and Giulia, by Karl Voelmoeller. There are also manuscripts for plays by Yorck: Im Letzten Augenblick; Happening at the Café; and 14ième Juillet, a radio play in French. There is also manuscript material for Free World Ballad - A Cantata for Mixed Voices; a ballet titled Hait est elle Zauberdam; and a pageant entitled The Good Will Ballad. Dazu gibt es viele Fotos aus den 30er und 40er Jahren.



Ruth Landshoff-Yorck: Sixty to Go. Roman vom Widerstand an der Riviera. AvivA Verlag, Berlin, 256 Seiten, 18,90 €.


Diana Mantel: Ruth Landshoff-Yorck – Schreibende Persephone zwischen Berliner Boheme und New Yorker Underground. Analysen zum Gesamtwerk. Peter Lang Verlag, Frankfurt., 428 Seiten, 76,95 €.

Thomas Blubacher: Die vielen Leben der Ruth Landshoff-Yorck. Insel Verlag, Berlin, 367 Seiten, 22,95 €.