Freitag, 4. Juni 2021

Saint-Martin-d'Ardèche: Max Ernst und die Engländerin

1937 hatten sich der arrivierte Künstler und Leonora Carrington, die zwanzigjährige Frau aus einer Millionärsfamilie, in London kennen gelernt. Von dort flohen sie nach Saint-Martin d‘Ardèche, kauften ein abgelegenes Bauernhaus und sorgten als „L‘Anglaise et le Max“ mit ihren kleiderlosen Spaziergängen durch den 300-Seelen-Ort für Gesprächsstoff. Hier einige Fotos und Bilder.


Ernst-Reliefs an der Außenwand des Hauses in Saint-Martin
Leonora hat die Zeit im Dorf - es heißt hier Saint Roc - in ihrer Geschichte "Der kleine Francis" Revue passieren lassen; veröffentlich im Suhrkamp-Sammelband "Das Haus der Angst".

Max Ernst stattete das Haus mit phantasievollen Reliefs und den Garten mit ebensolchen Fabelwesen aus. Einige der Kunstwerke wurden nach ihrem Auszug und dem überstürzten Verkauf des Hauses gestohlen; sie tauchten später teuer und als nicht vom Künstler legitimierte Bronzeabgüsse in Pariser Galerien wieder auf. Wenn man heute den steilen Weg hinaufgeht, auf den sich kaum einer der vielen Ardèche-Kanuten einmal verirrt, findet sich immer noch ein Relief von Ernst an der Straßenseite. Es stellt Loplop dar, seinen guten Geist jener Tage. Auf einer Wandstütze, aus der oben Hals, Kopf und Arme ragen, tanzt eine kleine, mit Schuppen und Federn geflügelte Figur.

Die Schweizer Journalistin Silvana Schmid hat „Loplops Geheimnis“ für Günter Kempf und seinen Anabas Verlag enthüllt. „Un peu de calme“ - etwas Ruhe, heißt das wichtigste Werk von Ernst aus jener Zeit. Bekommen hat er sie nicht. Unter der Leitung von Julotte Roche kümmerte sich in Saint-Martin die Association Max Ernst darum, den einjährigen Aufenthalt des Surrealisten weiter zu rekonstruieren.

Das hat engagiert angefangen, ist aber mittlerweile in einen „ziemlich tiefen Winterschlaf“ gefallen, wie selbst die Verantwortlichen des Office de Tourisme zugeben; es befindet sich übrigens in der Rue Max Ernst.

Was sich lohnt: Den 10-Minuten-Film im Fremdenverkehrsamt ansehen und zum Haus spazieren. Hier ein Trailer des Schamoni-Films. Der Rue du Moulin folgen und dann über die Hauptstraße - mit einer verwirrend-verschlungenen doppelten Kreisverkehrsregelung - zum Quartier Les Alliberts hinauf; ein Spaziergang von nicht mehr als einer halben Stunde, der nicht nur mit dem Blick auf die künstlichen Skulpturen belohnt wird, sondern auch mit dem auf die nicht minder beeindruckenden natürlichen Steinformationen, die die Ardèche geschaffen hat. 



Mas und Camp Saint Nicolas: Heute zerfallen. Bild rechts aus dem Jahr 1982.
Bilder Google Earth und Werner Clemens-Walter
Wenig später gehörte Max Ernst zu den Insassen der Konzentrationslager „Les Milles“ und „Camp Saint Nicolas“, das die Franzosen für unerwünschte Ausländer eingerichtet hatten. Von einer amerikanischen Rettungsorganisation unter Varian Fry betreut, konnte er in die Vereinigten Staaten fliehen.

Das „Camp Saint Nicolas“ liegt heute mitten in einem militärischen Sperrgebiet zwischen Nîmes und der Brücke Saint Nicolas. Es ist – und damit im Gegensatz zu Les Milles - bis auf die Ruinen des ehemaligen Gutshofes Saint Nicolas, vollständig zerfallen. Das Bild habe ich von Werner Clemens-Walter bekommen, der viele Jahren in Blauzac lebte - und sich von dort zu Beginn der achtziger Jahre auf Spurensuche begeben und die Garrigue dort mit einer Genehmigung des Französischen Verteidigungsministeriums durchstreift hat.

Dienstag, 1. Juni 2021

Authentische Krimis von Johanna Huda

  Eine Serie von Kriminalromanen aus dem Languedoc, die schon bei dem ersten Blick auf die Cover erhoffen lassen, dass hier

jemand schreibt, der die Region so abbildet, wie sie ist: Wellblechschuppen der Austernfischer, unrenovierte Häuser auch in der ersten Reihe am Hafen und Boote, mit denen noch gefischt wird. Und so ist es dann auch! Orte, wie sie sind und Menschen,wie sie sein könnten. Den Familiennamen ihres Protagonisten, Joseph Leroux, hat Johanna Huda auf einem Grab des Friedhofs von Marseillan entdeckt.

Nationalfarben im Hafen von Mèze. Bild Huda

Die Gegend rechts der Rhône ist inzwischen das authenthische Südfrankreich; schon längst nicht mehr die überlaufenen und überteuerten Orte der Provence und der Côte d’Azur. Die Titelbilder für die Bücher stammen übrigens, mit einer Ausnahme, von Johanna Huda selbst. Ich bin heilfroh, daß wir hier nicht von den üblichen blühenden Lavendelfeldern in die falsche Richtung geleitet werden, sondern am Étang de Thau sind, in Sète, Mèze, Balaruc und Bouzigues.

Die Bücher sind in einem, und das meine ich durchaus positiv, seltsamen Verlag erschienen: Oldib, und nicht Olbid, wie man vielleicht bei einem Verleger namens Oliver Bidlo erwarten könnte. Wenn Sie Literatur über Phantastik und Mittelerde, die Geschichte der Hofnarren oder die Einschreibung des Anderen per Tattoo suchen, sind Sie bei Bidlo richtig. Das Gesamtverzeichnis des Verlages habe ich versucht für mich irgendwie zu systematisieren – das geht aber nicht. Schön, wenn noch so ohne Spezialisierung und Zielgruppen-Marketing Bücher verlegt werden, die scheinbar alle dem Verleger Spaß gemacht haben. Also auch Krimis – und zwar richtig gute von Johanna Huda.

Blick von der Bar Le Tabou auf den Hafen von Mèze. Bild: Huda

Capitaine Joseph Leroux und seine Kollegin Catherine Rozier ermitteln in "Schatten über dem Étang de Thau" zum vierten Mal miteinander; beim ersten Mal war Leroux noch alleine. Die beiden Polizisten verbindet eine Vorliebe zu den Romanen des vor zwei Jahren gestorbenen Andrea Camillieri. Bei aller Liebe zum Commissario Montalbano – da gefallen mir Leroux und Rozier besser! Die Ermittlungen des fünften Bandes lassen Capitaine Joseph Leroux und Lieutenante Catherine Rozier eintauchen in das kriminelle Hafenmilieu von Méze. Ohne zuviel verraten zu wollen: Kaufen und lesen Sie das Buch einfach und das selbst dann, wenn Sie auf der falschen Seite der Rhône Urlaub machen. 

Beim nächsten Mal kommen Sie dann hierher, zum Beispiel auch direkt ins Château Les Sacristains, das von Margarete und Peter Plück geführt wird.

Hier erfand Johanna Huda ihren  Joseph Leroux: www.chateau-les-sacristains.fr bei Montagnac. Bilder: Château

An diesem Ort müssen einem die guten Gedanken nur so zufliegen. Die ersten, noch handschriftlichen Notizen für Band 1 hat Huda hier zu Papier gebracht und dann auch "den letzten Schliff" von Band 6 - per PC allerdings.

P.S. Zwei Dinge, die das Lektorat leicht abstellen kann, haben mir weniger gefallen, weil sie die Lesbarkeit beeinträchtigen: 1. Absätze, die sich über ganze Seiten hinziehen, zum Beispiel auf den Seiten 50, 53, 55 und vielen mehr. Die paar Seiten mehr machen die Produktionskosten und das Buch (14 Euro) nicht teurer. Und selbst für 16 Euro würde nicht ein Exemplar weniger verkauft 2. Einige richtige und wichtige erklärende Passagen zur Austernzucht, die sich aber auch in der wörtlichen Rede so lesen, als seien sie aus dem „Lehrbuch der Austernkunde“ übernommen. Beides ließe sich leicht verbessern und dann wären die Bücher für mich wirklich „rund“.

Sonntag, 30. Mai 2021

Unbedingt lesen! Rademacher's "Schweigendes Les Baux"

Roman um das Bild einer jungen Frau
Allmählich fühle ich mich, dank Cay Rademacher, richtig zuhause rund um den Étang de Berre, in Miramas-le-Vieux und Salon-de-Provence und der Ölmühle von Capitaine Roger Blanc, der ohne seine Fabienne und deren Computer- und Handy-Kenntnisse völlig aufgeschmissen wäre. Der aber auch aufgeschmissen wäre ohne die Rechtsmedizinerin Fontaine, mit der er verbotene Dinge tut, ohne die Untersuchungsrichterin Avelin, der Blanc immer noch etwas nachtrauert, aber nur solange bis er die Koch- und sonstigen Künste seiner Nachbarin Paulette entdeckt. Und dann ist da ja auch noch die Galeristin Valéria Chevilliet, der aber möglichst niemand zu nahekommen sollte. Ein verzwickter Fall, den Kommissar Blanc diesmal zu lösen hat - nicht nur der vielen Frauen wegen.

Cay Rademacher - c buechermenschen.de
Cay Rademacher legt (wieder) einen Kriminalroman vor, der einen nicht loslässt: Viel Spannung und viel südfranzösisches Flair verwoben in eine komplexe Handlung, in der sich auch die Kriminalisten immer wieder verirren. Ein Mann wird ermordet, ein Kunstdetektiv, der zwar auf der Suche nach einem an sich ziemlich unbedeutenden Bild ist, den es tatsächlich aber aus ganz anderen Gründen in die Provence gezogen hat. Eine Woche später irrt die Polizei noch immer ziemlich ahnungslos durch die Gegend. Chefermittler Blanc weiß nicht einmal zu sagen, ob er mit seinen Ermittlungen überhaupt vorangekommen ist. Auf Seite 204 ist Blanc soweit, dass er sich „hoffnungslos in einem Netz aus alten Verbrechen, seltsamen Zufällen und dunklen Familiengeheimnissen“ verstrickt hat. Gut zweihundert Seiten ist natürlich alles aufgeklärt und es bleibt Zeit für Paulette. Bis dahin müssen aber noch viele Züge auf einem komplizierten Spielfeld gemacht werden und nur langsam gelingt es Blanc, die ein oder andere Figur aus dem Spiel zu nehmen.

Rademacher baut auch Persönliches in die Geschichte ein, sein Interesse etwa an den Bildern der früh gestorbenen Malerin Adry Novoli - tatsächlich einer ehemaligen Nachbarin. Einige Bilder der Autodidaktin hat er bereits erworben und gesteht in seinem Blog: Am liebsten würde ich sie alle kaufen. https://provencebriefe.blogspot.com/2018/03/mankann-nicht-sagen-dass-sich-in-der.html Ein abgeschlossener Roman wäre doch immer wieder ein guter Zeitpunkt für eine neues Bild – oder? Dann könnte sich Rademacher jetzt das achte Bild gönnen, die er aber vielleicht auch schon längst hat. Im Internet kann man die Bilder übrigens ausgesprochen preiswert erwerben; meist kosten sie da - oder auch bei den Hôtels des Ventes - nur zwischen 80 und 350 Euro. 

Signatur meist auch auf der Rückseite

Adry Novoli's Atelier, das heute von ihrem Mann Henri betreut wird, sieht aus, als habe sie nur mal eben ihren farbverklecksten Maltisch verlassen und sei hinunter in den Garten gegangen. Ganz genau wie Werner Lichtner-Aix in seinem Musée-Atelier in Sérignan-du-Comtat; siehe auch: http://lustaufprovence.blogspot.com/2018/11/werner-lichtner-aix-auf-der-suche-nach.html Nur wäre der nicht in den Garten gegangen, sondern in die Bar.

Les Baux und die Carrières de Lumières mit ihren beeindruckenden Motiven - von denen sicher eines statt der

 

beliebigen Mandelbäume auf den Titel gehört hätte - bilden die provenzalische Kulisse für diesen Roman. Insbesondere die „Steinbrüche des Lichts“, die man wegen der beeindruckenden Gemälde-Installationen unbedingt besuchen sollte. Multimedial werden die Meisterwerke von Cézannes, Klimt oder van Gogh auf die 14 m hohen Wände und Säulen,  aber auch den Boden des Steinbruchs projiziert und mit Musikuntermalung zum Leben erweckt. Und, um zurück zur Überschrift zu kommen: Unbedingt lesen! Und für 16 € naürlich in der Buchhandlung kaufen.