Samstag, 4. Januar 2020

Mont Ventoux: Petrarcas Bericht von der Erstbesteigung, die keine war

Mont Ventoux über den Wolken. Wieder eines der genialen Bilder von Steffen Lipp.

Die Besteigung des Mont Ventoux, schreibt Francesco Petrarca im 14. Jahrhundert, habe ihm viele Jahre lang im Sinn gelegen,

„habe ich doch in der hiesigen Gegend seit meiner Kindheit geweilt. Dieser Berg aber, der von allen Seiten weithin sichtbar ist, steht mir fast immer vor Augen.“
In einem seiner Briefe an den Augustinermönch Francesco Dionigi von Borgo san Sepolcro in Paris beschreibt er diese Tagestour. Von
Francesco Petrarca: Humanist, Dichter, Jurist, Diplomat                                        Bild Wiki comm
Malaucène aus machten sich Petrarca und sein Bruder über die steile, aber kürzere Nordflanke auf den Weg.

Wieso ausgerechnet mit seinem Bruder als Reisebegleiter? So ganz alleine wollte er sich allerdings nicht auf den Weg machen und sicher hätte die Besteigung schon ein oder zwei Jahre früher stattfinden können, hätte er den richtigen Begleiter gefunden.

„Als ich aber deswegen mit mir zu Rate ging, erschien mir, so merkwürdig es klingt, kaum einer meiner Freunde dazu geeignet. So selten ist selbst unter teuren Freunden jener vollkommenste Zusammenklang aller Wünsche und Gewohnheiten. Der eine war mir zu saumselig, der andere zu unermüdlich, der zu langsam, jener zu rasch, der zu schwerblütig, jener zu fröhlich, der endlich zu stumpfen Sinnes, jener gescheiter als mir lieb. Beim einen schreckte mich seine Schweigsamkeit, beim anderen sein lautes Wesen, bei einem seine Schwere und Wohlbeleibtheit, beim anderen Schmächtigkeit und Körperschwäche. Beim einen machte mich kalte Gleichgültigkeit bedenklich, bei einem anderen wieder gar zu heißes Anteilnehmen.“
Kirsch- und Pfirsischblüte unterhalb des Mont Ventoux
Kurz, man hätte Petrarca raten mögen, doch alleine zu gehen. Zu guter letzt fällt ihm noch sein Bruder ein – und der ist es dann.

Eine Abschrift der Confessiones des Augustinus war ihm geschenkt worden, eine Schrift, die Petrarca jahrzehntelang bei sich trug und die auch den Weg mitmachte auf die Spitze des Ventoux. Dort oben schlug der Wind zufällig eine ganz bestimmte Seite auf.

„Das faustfüllende Bändchen allerwinzigsten Formats, aber unbegrenzter Süße voll, öffne ich, um zu lesen was mir entgegentreten würde. Zufällig aber bot sich mir das zehnte Buch dieses Werkes dar.“
Und dann zitiert er Augustinus. „Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne – und haben nicht acht ihrer selbst.“ Also weg von den Äußerlichkeiten empfiehlt der Kirchenlehrer, Einkehr und innere Werte, die Seele. Zornig auf sich selbst war Petrarca, daß er noch kurz zuvor genau jenen Gipfelblick genossen hatte, den Augustinus ihm jetzt wie in einem Spiegel vorhielt.
„Ich sah klar zur Rechten die Gebirge der Provinz von Lyon, zur Linken sogar den Golf von Marseille, und den, der gegen Aigues-Mortes brandet, wo doch all dies einige Tagereisen entfernt ist.“
Manchmal Schnee bis in den Mai                                                       Bild: Lipp

Viele halten Petrarca für den Erstbesteiger des Ventoux. Das war er natürlich nicht und er selbst gesteht ein, daß ihm auf den Weg nach oben ein alter Hirte entgegenkam, der diese Tour mehrmals im Monat machte, um nach seinen Schafen zu sehen.

Ganz unumstritten ist Petrarcas Autorenschaft am Brief nicht mehr; warum, das steht HIER. Gut dreißig Jahre später, als er seinen Tod herannahen fühlte, verschenkte er die Augustinus-Handschrift an seinen Glaubensbruder Ludovico Marsili und gab ihm mit auf den Weg:
„An der Gabelung Deines Lebensweges hast Du viele Führer zur Verfügung. Möge Dir doch der eine genügen, Augustinus, der Führer Deines geistlichen Hauses, von dem Du siehst, daß er in eben Deinem Alter gegen seine Irrtümer und Fehler in hochherzigem Ansturm einen siegreichen Kampf ausgefochten hat.“ 
Samuel Beckett, wenn er mit oben auf dem Ventoux gewesen wäre, hätte das sicher anders ausdrückt:

„Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.”