Samstag, 23. März 2024

„Marseille 1940“ – Uwe Wittstocks Buch über Varian Fry und die Rettung zahlreicher Exilliteraten

Wenn mich heute jemand fragen würde, wo Uwe Wittstock die Zeit zwischen dem 14. Mai 1940 und dem 2. November 1941 verbracht hat, würde ich sagen: In Marseille – anders kann es gar nicht gewesen sein. So nah dran ist er mit seinem Buch „Marseille 1940“ an den deutschsprachigen Literaten, die ab 1933 vor den Nationalsozialisten nach Frankreich geflohen waren. Am 14. Mai 1940 hören wir gemeinsam mit Lion Feuchtwanger in seinem Haus in Sanary-sur-Mer die Abendnachrichten.Am 2. November 1941 kehren wir mit Varian Fry in die USA zurück.

ExilantentreffpunktVieux Port

Nach der Kapitulation Frankreichs und dem Vormarsch der Wehrmacht in den Süden, trafen sich Autoren wie Heinrich Mann, Walter Hasenclever, Lion Feuchtwanger oder Franz Werfel, um nur einmal vier der Namhaftesten zu nennen, in französischen Sammellagern wie Les Milles bei Aix-en-Provence und Saint Nicolas bei Nimes oder in Marseille; die Stadt hatte den letzten freien Hafen, der eine Ausreise etwa über Nordafrika und Portugal in die Vereinigten Staaten erlaubte. Oder man mußte per Bahn an die spanische Grenze fahren, auf alten Schmugglerwegen über die Pyrenäenausläufer klettern und hoffen, daß man nicht kontrolliert oder die Ausweisdokumente aberkannt wurden.

Varian Fry: Nach Rückkehr in die USA vergessen

Zum Glück war Varian Fry, ein junger amerikanischer Journalist, nach Marseille gereist und baute das Emergency Rescue Committee auf. Vor allem um die Rettung von Künstlern und Schriftstellern sollte er sich kümmern gehen. Mit Namenslisten, Briefen und 3000 Dollar in der Tasche war er angereist, um Exilanten die Ausreise zu ermöglichen. „Ich verließ Amerika, die Taschen vollgestopft mit den Listen der Namen von Männern und Frauen, die ich retten mußte.“ Um sie nicht beim französischen Zoll in Gefahr zu bringen, hatte Fry sich die Namenslisten um den Unterschenkel geklebt. Und reichlich optimistisch hoffte er, seine „Arbeit innerhalb eines Monats erledigt zu haben“. Folgerichtig hatte er lediglich vier Wochen Urlaub beantragt und auch bereits das Rückflugticket gebucht. Ein Jahr später war die Arbeit noch bei weitem nicht getan.

Blick von Frys Arbeitszimmer im Hotel Splendide auf die Treppe des Bahnhofs Saint Charles

Fry, anfangs in unbekümmerter Naivität, verstand es, sich schnell ein Netzwerk aufzubauen und es für seine Schutzbefohlenen nutzbar zu machen. Die Palette seiner unterschiedlich vertrauenswürdigen Kontaktpersonen umfasste das Spektrum vom katholischen Priester und dem Chef einer Schmugglerbande über antifaschistische oder bestechliche Polizei- und Zollbeamte bis hin zu Mitarbeitern der Konsulate und der Résistance.

Auf Seite 325 beginnt mit dem Kapitel „Was danach geschah“ der Teil des Buches, mit dem Sie Ihre Lektüre beginnen sollten, weil hier die Hauptpersonen biografisch eingeordnet werden. Im Text selbst wird manchmal zuviel vorausgesetzt, wobei das bei der Vielzahl der Namen fast verständlich wird. Für mehr Informationen sei der Blick auf die Homepage des Exil-Archivs empfohlen. In den dort bisher gesammelten 46,3 Millionen Text-, Bild- und Ton-Dokumenten kann man sich allerdings wunderbar verlieren.

Lisa und Hans Fittko: Unentbehrliche Fluchthelfer auf der Pyrenäenroute

Mit „Marseille 1940“ passiert das nicht und man ist und bleibt mittendrin. Das Buch gewinnt seine Authentizität durch die Vielzahl der wörtlich zitierten Quellen. Es wird selbst zu einem Tagebuch, an dem die unterschiedlichsten Personen mitgeschrieben haben. Eine deutsche Kommunistin wie Anna Seghers, eine amerikanische Erbin wie Peggy Guggenheim, der Surrealist André Breton und der Zeichner und Passfälscher Bil Spira. Wenn dazu auch noch die französischen Quellen ausgewertet worden wären, hätte das Buch allerdings mindestens 700 Seiten dick werden müssen.

Von mir nur ganz einfach die Empfehlung sich das Buch unbedingt zu kaufen, damit Sie das wichtigste Buch dieses Jahres – und es ist für mich nicht zu früh, dies jetzt zu schreiben - Ihr Eigen nennen können.






Dienstag, 19. März 2024

Heinrich Hansjakob, Schwarzwaldpfarrer mit einer Vorliebe für die Frauen des Südens


Ein Glas Wein  von Valérie Bèguy, der schönsten Frau Frankreichs
im Jahr 2008 hätte Heinrich Hansjakob gerne angenommen Bild oe24
Der aus Haslach im Schwarzwälder Kinzigtal stammende Pfarrer Heinrich Hansjakob war, als er kurz nach dem Krieg von 1870 mit seinem Heidelberger Freund Lindau nach Frankreich reiste, eine Erscheinung, nach der man sich auf den Straßen vor allem im Süden umdrehte. Zwei Meter zwanzig maß er mit seinem immer getragenen schwarzen Hut. Vielleicht war es zu der Zeit ganz gut, daß er fast überall für einen Engländer gehalten wurde.

Die Reise nach Frankreich trat er auch an, weil er gerade zwei Gefängnisaufenthalte hinter sich hatte: Einmal wegen aufrührerischer Reden und kurz darauf wegen Beamtenbeleidigung. Beide Verurteilungen machten ihn stolz. Hansjakob war immer eher dagegen als dafür und polterte in seinen vielen Büchern und Predigten gegen Bischöfe, Militärs, Juden, Leser der Romane von Walter Scott, Bartträger und kapitalistische Ausbeuter und natürlich gegen das „schweinsmäßig grunzende, Landschaft verhunzende“ Automobil sowie emanzipierte Frauen.
Hansjakob: 2 Meter 20 mit Hut

Die anderen fand der Pfarrer schon deshalb gut, weil er vom Zölibat nichts hielt und mehrfacher Vater war. Ein Brauer aus Waldshut soll sich erschossen haben, weil ihm ausgerechnet ein Priester die Frau ausgespannt hatte. Auch in Südfrankreich ließ er seine Augen
Tartarin hätte sich
mit Hansjakob verstanden
schweifen, etwa auf die Frauen in Tarascon: „Große und schlanke Figuren mit ganz blassen Gesichtern und ganz antiken Profilen“. Lange dunkle Gewänder „und schwarze Kopfbinde lassen die feine Blässe noch vorteilhafter hervortreten“. Immer wieder wurde er „von den Schönen“ wegen seiner Statur angesprochen und zu einem oder mehreren Gläsern Wein eingeladen.

Immer wieder auch ärgerte er sich über die kaum besuchten Gottesdienste. In Béziers fanden sich gerade mal siebzehn Frauen in einer Messe ein, die von fünf Priestern im Ornat gehalten worden.

„Voilá la France réligieuse!“

kommentierte er. Ähnliches wird er über die Bischöfe von Maguelone gedacht haben, die ihre Münzen jahrhundertelang mit der Aussage „Allah ist groß“ umrandeten. Selbst der Versuch eines Papstes, das zu unterbinden, war erfolglos, schließlich befördere das den Handel mit Nordafrika und Arabien.

Danke an Hans F. Ringwald aus Ohlsbach für den Hinweis auf Hansjakob in Südfrankreich.