Samstag, 25. November 2017

Zwei Languedoc-Kriminalromane von Silke Ziegler: 1000 Seiten Strandlektüre

Das kleine Städtchen Argèles-sur-Mer, bei Perpignan kurz vor der spanischen Grenze gelegen, hat heute im Sommer meist mehr als sechzigtausend und im Winter knapp zehntausend Einwohner. Hier ist die Welt in Ordnung, scheint es, solange jedenfalls, bis man zu den Argèles-Krimis von Silke Ziegler greift.

Die vielen Gäste am Strand sind gewollt - heute jedenfalls. 1939 war das anders.Das Ende des spanischen Bürgerkrieges hatte allein 400.000 Flüchtlinge - mehr als doppelt so viele, wie das Departement Pyrénées-Orientales damals Einwohner besaß – in die Gegend kommen lassen. Der französische Premierminister Édouard Daladier hatte die Grenzen geöffnet und gehofft, daß man es irgendwie schaffen könne, die Flüchtlinge unterzubringen und zu versorgen. Weit gefehlt: Mehr als 75.000 Menschen wurden am Strand von Argèles hinter Stacheldrahtverhauen untergebracht und nur so notdürftig versorgt, daß viele von ihnen starben.


Ein Deutscher, der auf Seite der Republikaner im Bürgerkrieg gegen Franco gekämpft hatte, beschreibt das in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1941: „Wir kamen in zusammengefallenen Hütten an, halb verhungert und durchnässt, der Regen tropfte durch die undichten Holzdecke. Die Strohmatten waren nass und voller Fliegen. Wasser wurde aus zwei Meter tiefen Löchern geschöpft. 30 Männer starben in zwei Monaten. Erst als Typhus nachgewiesen wurde, wurden die Toiletten verbessert. Die französische Lagerleitung rechtfertigte ihre Untätigkeit mit der Niederlage Frankreichs und der allgemeinen Knappheit. Immerhin gab es ausreichend Früchte und Gemüse zu essen.“  Norbert Flörken hat das dokumentiert.

Blick vom Tour de Madeloc auf die Cote Vermeille
Für die meisten Besucher von Argèles-sur-Mer ist der kilometerlange Sandstrand von Argèles-Plage das Ziel. Dabei hat das Städtchen und vor allem die Umgebung einiges zu bieten. Zum Beispiel  den Tour de Madeloc, den einen weiten Rundblick auf die Cote Vermeille bietet, die sehenswerte Kirche Saint-Laurent-du-Mont im Wald von Valmy ein paar Kilometer südlich der Stadt und dort auch den Strand von Le Racou. Hier gibt es die kleinen Strandhäuser, die nicht von den Hochhaus-Bausünden erdrückt werden und in denen man sich wie auf einem Schiff fühlt. Die Restaurants sind nicht ausschließlich auf touristische Einmalbesucher ausgerichtet, sondern achten auf ein ordentliches Verhältnis zwischen Preis und Leistung. Das gilt etwa für das „La Table au Coin“ gerade für Fisch und Meeresfrüchte oder „La Casa Loca“ für katalanische Küche. Außerdem beginnt hier trifft die Felsenküste, die beim Tauchen und Schnorcheln eine ganz andere Abwechslung bietet. Und: Sie sind nur eine kleinen Spaziergang von Collioure entfernt, der Malerstadt des Fauvismus mit ihrer beeindruckenden Wehrkirche (auch auf dem Titel von „Im Schatten des Sommers“), die ins Meer hinaus gebaut wurde.

Der Strand von Argèles: Tatort im Roman und Internierungslager
 Das alles findet in den (trotzdem lesenswerten) Kriminalromanen von Silke Ziegler für mich viel zu wenig statt, um gleich mit meinem kritischen Punkt zu beginnen. Mit „Im Schatten des Sommers“ hat sie im Dortmunder Grafit-Verlag einen Newcomer-Erfolg gefeiert und sich mit „Im Angesicht der Wahrheit“ schon eine beachtliche Stammleserschaft erschrieben. Und das, obwohl sie auf das Lokalkolorit Südfrankreichs gerade im ersten Band weitgehend verzichtet. Beide Bücher Zieglers (Jahrgang 1975) leben von einer durchdachten Konstruktion und vor allem von den Dialogen. Sie sind in Argèles-sur Mer angesiedelt, könnten aber genauso gut in der Eifel spielen. Dort hat Jacques Berndorf (Jahrgang 1936) vorgemacht, wie man Menschen und eine Landschaft in einem Krimi verwebt.
Ohne zuviel zu verraten, worum geht’s in den beiden Büchern?
Im Angesicht der Wahrheit: Estelle hat in Argèles die kleine Pension ihrer Großmutter geerbt. Aus dem Ort ist sie kurz nach ihrem Schulabschluss nach einem traumatischen Erlebnis weggegangen. Und nun werden ihre ehemaligen Klassenkameraden einer nach dem anderen umgebracht. Ob Estelle die Mörderin ist? Schnell wird klar, daß sie es nicht ist, aber die Auflösung und die Motive des Täters sind spannend herausgearbeitet.
Im Schatten des Sommers: Vor zwanzig Jahren sind die Eltern von Sophia in einen Supermarkt gegangen und nie wieder aufgetaucht. Jetzt findet die Polizei eine neue Spur. Ein Mann, Unfallopfer, hat ein Foto dabei: Die Frau darauf ist Sophias Mutter. Und Kommissar Nicolas Rousseau verhält sich anfangs nicht so, daß Sophia Vertrauen in die Polizeiarbeit fassen kann. Eine Mischung zwischen Krimi und Romanze mit Horror-Passagen.
Wenn Sie die beiden Bände mit in den Urlaub nehmen, sind Sie und vor allem Ihre Frau mit zusammen 1.000 Seiten gut versorgt. Aber Vorsicht bei der Lektüre am Strand: Nach mehr als 100 Seiten, und die werden es leicht, wenn man sich erst einmal eingelesen hat, droht ein ordentlicher Sonnenbrand.

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