Samstag, 24. März 2018

Françoise Frenkel: Die Flucht der Buchhändlerin von Berlin nach Nizza

Im September 1945 veröffentlichte der Genfer Verlag Jeheber ein für mich mit seinen rund zweihundert Seiten viel zu kurzes Buch der polnisch-jüdischen Buchhändlerin Françoise Frenkel, die sich den Titel aus dem Lukas-Evangelium entliehen hatte: "Nichts, um sein Haupt zu betten". Ein Bild von ihr existiert (bisher) nicht.

Erfolgreich auf deutsch, englisch, spanisch und, natürlich bei Gallimard, auf französisch
Knapp zwanzig Jahre, bis 1939 hatte die promovierte Literaturwissenschaftlerin und ausgebildete Musikerin die französische Buchhandlung in Berlin betrieben, sehr erfolgreich auch wegen der vielen Autorenbesuche und Veranstaltungen. Colette und André Gide waren dort, Philippe Soupault und Roger Martin du Gard, der Nobelpreisträger des Jahres 1937, und viele andere. Sie alle
Titelbildentwurf für die spanische Ausgabe. Bild Radiotimes
kommen nur in einer kurzen Aufzählung vor und Frenkel hätte sicher viel mehr, auch über sie, zu erzählen gehabt. Ihr nüchtern geschriebener Bericht über eine Flucht aus Berlin über Brüssel und Paris in den damals noch freien Süden nach Avignon und Nizza hat vor allem die eine Frage nicht beantwortet: Warum erwähnt sie ihren Mann, der ja auch in der Buchhandlung tätig war, nicht mit einem Wort.


Darüber wunderte sich auch der Literatur-Nobelpreisträger Patrick Modiano in einem Vorwort für den der Gallimard Verlag - deutsch bei Hanser - , als dieser fast siebzig Jahre später eine Neuauflage besorgte: „Phantom-Ehemann“. Die Originalausgabe war kurz zuvor in Nizza auf einem Trödelmarkt der Emmaus-Bruderschaft durch den Schriftsteller Michel Francesconi wiederentdeckt worden. Niemand wäre übrigens besser als Modiano für das Vorwort geeignet gewesen. Als er 2014 den Nobelpreis erhielt begründete das die Jury mit dem Satz:
„Für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der Besatzung sichtbar gemacht hat.“
 


Flucht über Avignon nach Nizza
Aus dem amtlichen Name von Françoise Frenkel geht der Name ihres Mannes Simon hervor. Raichenstein hieß er und sie Frymeta Idesa Raichenstein-Frenkel, geboren am 14.7.1889 in Piotrków. Das ergibt sich aus einer Liste von Personen, die bei Genf die Grenze zur Schweiz überschritten und dort eine Aufenthaltsgenehmigung erhielten; die Unterlagen befinden sich im Staatsarchiv Genf. Die Frage, warum Simon Raichenstein dieses Phantom bleibt, wird niemand mehr beantworten können. Sie ist 1975 gestorben. Ende 1933 hat er Berlin, versehen mit einem der sogenannten Nansen-Pässe verlassen.

Französischer Nansen-Pass. Bild von Anna Viesel aus Trier.
Fridtjof Nansen, der norwegische Kommissar des Völkerbundes fürFlüchtlingsfragen, hatte das Pass-Ersatz-Dokument Anfang der zwanziger Jahre für staatenlose Flüchtlinge eingeführt und dafür später den Friedens-Nobelpreis erhalten. Der Pass war jeweils für ein Jahr gültig und garantierte die Rückreise in jenes Mitgliedsland des Völkerbundes, in dem er ausgestellt worden war. Zu den bekanntesten Inhabern des Passes gehörten Vladimir Nabokov, Marc Chagall und Igor Strawinski.

Dieser Pass nützte Raichenstein nichts. In Frankreich kam er ins Lager Drancy und am 24. Juli 1942 nach Auschwitz, wo er kurz darauf ermordet wurde. Aber kein Wort über ihn von seiner Frau. Die gelegentlich geäußerte Vermutung, sie habe darauf verzichtet, um ihren Mann nicht zu gefährden, ist nicht stichhaltig. Schon als sie anfing, das Buch zu schreiben, war ihr Mann bereits tot und als das Buch 1945 erschien, existierte das nationalsozialistische Deutschland nicht mehr und spätestens da hatte sie sicher längst Nachricht von seinem Tod bekommen.

Pierre Bertaux
Bild: Ordre
Standesgemäß überheblich und nicht sehr fein ging der Germanist Pierre Bertaux mit Frenkel um, der sie als die
„alte Schreckschraube des Maison du Livre“
bezeichnete und sich in der Buchhandlung von
„Herrn und Frau Raichenstein, Russen, Galizier oder etwas in der Art wie bei den Totengräbern eines Beerdigungsinstitutes“
fühlte. Bertaux war Ende der zwanziger Jahre der erste Franzose, der wieder zum Studium in Berlin zugelassen wurde und wurde später einflußreich als Koordinator für die geheimdienstlichen Aktivitäten der Resistance. Er hatte auch zahlreiche Kontakte zu deutschen Exilschriftstellern.

Ganz im Gegensatz dazu schrieb der Journalist Jules Chancel in seinem 1928 erschienenen Deutschlandbuch “Zehn Jahre danach” von einem anregenden deutsch-französischen Fest in der Buchhandlung und zeichnete “ein kleines, ungemein wohlwollendes Portrait der Buchhändlerin”, wie die Berliner Literaturwissenschaftlerin Maragrete Zimmermann herausfand.

Danke an Imogen und Michael Remmert für den Hinweis auf Françoise Frenkel.




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